Entlastet!

Heute ging eine kleine Ära meines Lebens ihrem Ende entgegen. Nach 13 Jahren als Vorsitzender – immerhin fast ein Drittel meines Lebens – habe ich die Leitung des Alpha Deutschland e.V. heute abgegeben.

Eigentlich hatte ich schon viel eher vor, diesen Schritt zu gehen. Vor zwei Jahren jedoch kamen wir ins Gespräch über die Frage, ob es eine kontextualisierte Fassung des Kursmaterials für deutsche Verhältnisse (kirchlich wie kulturell) geben könnte. Da ich eher ein Entwicklertyp als ein Vertriebsmensch bin, stieg ich mit 20% meiner Zeit ein und wir arbeiteten mit einem kleinen, aber feinen Team an einer Neufassung. Zugleich hatten wir mit unserer Büromannschaft unter Anleitung von Paul Donders (xpand) eine sehr motivierende Neuausrichtung begonnen.

Im Winter dann kam unerwartet das „Aus“ für unser Projekt aus London. Die Vorstellungen ließen sich wider Erwarten doch nicht unter einen Hut bringen, zumal auch die Schweiz nolens volens noch mit im Boot saß. In gewisser Weise ist das eine typische Konfliktlage in einer Organisation mit klarer Zentrale und internationalen Zweigstellen, und das ist Alpha eben doch mehr als ein dezentrales Open-Source-Netzwerk. Dazu kam, dass unsere finanzielle Situation im Verein nicht rosig aussah und unsere ehrenamtlichen „Fundraiser“ nur schleppend voran kamen. Es ist aber eben doppelt belastend, wenn man einerseits als Vorstand in der Haftung ist für mögliche Defizite und zugleich als Angestellter Einschnitte unausweichlich kommen sieht.

Alpha International hat Neuwahlen des Vorstands angeregt und ich bin dankbar für die Gelegenheit, aus diesem Zwiespalt von Vorsitz und Anstellung ausscheiden zu können. Nun werde ich als (geringfügig) Angestellter in den nächsten Monaten dem neuen Vorstand noch helfen, die Weichen für eine Zukunft zu stellen, von der noch niemand genau sagen kann, wie sie aussehen wird. Aber ich kann das fröhlichen Herzens und versöhnt tun – auch deswegen, weil ich den Kopf dann wieder frei bekomme für meine Familie, Freunde und Gemeinde, für die ich im letzten Jahr nicht so viel Zeit und Aufmerksamkeit aufbringen konnte, wie ich mir das gewünscht hatte, und die mich geduldig getragen haben in dieser Zeit.

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Reformation und Emergenz

Ausgerechnet auf der IAA – im Testosteronnebel, der PS-Protze und Designstudien dort umgibt – kam ich gestern dazu, den Aufsatz meines Doktovaters Berndt Hamm über „Die Emergenz der Reformation“ zu lesen. Phyllis Tickle hatte – freilich weniger wissenschaftlich – diese Linie ja auch verfolgt. Ich kann das kleine Büchlein Die Reformation: Potentiale der Freiheit nur wärmstens empfehlen.

Hamm geht als Experte für Spätmittelalter und Reformation an das Thema Emergenz heran. In der Darstellung der Reformation gab und gibt es zwei gleichmaßen reduktionistische Grundansätze: Einerseits die Betonung des organisch-evolutionären Charakters und der Kontinuität zwischen den Luthers Erkenntnissen bzw. den Ereignissen des frühen 16. Jahrhunderts auf der einen Seite und den spannungsreichen Polaritäten spätmittelalterlicher Kultur, Frömmigkeit, Kirchenpolitik und Reformansätzen auf der anderen Seite – den prozesshaften Aspekt dieser „Transformation“. Andere betonen umso steiler den Bruch, die Diskontinuität, das Neue und (vor allem dann, wenn sie sich selbst mit dem reformatorischen Erbe identifizieren) das unbestreitbare Wirken Gottes durch Geistesgrößen und Ausnahmegestalten wie eben Luther im klaren Gegensatz zu allen menschlich-immanenten Anteilen. Zugleich wendet er sich gegen Foucaults Gedanken der seriellen Geschichtsschreibung, die einseitig Kontingenz und Diskontinuität betont.

Die Refomation als ein emergentes Geschehen zu betrachten, erlaubt es, diese Gegensätze zusammenzubringen: Einerseits war alles schon irgendwie vorhanden und vorbereitet und keiner der Reformatoren fügte der Gemengelage seiner Zeit etwas entscheidend Neues, nie Dagewesenes (oder schreibt man man „Niedagewesenes“ bzw. „nie da Gewesenes“?) hinzu. Andererseits ergab sich eben doch eine ganz neue Situation durch systemsprengende Innovation, die eben nicht im Voraus schon ableitbar oder vorauszusehen gewesen wäre:

Die Geschichte der Reformation ist eine Vernetzung und Wechselwirkung zwischen sich überlagernden Kontinuitäten von unterschiedlicher Dauer und interagierenden Sprüngen und Ereignisketten von unterschiedlicher Reichweite. Der Blick auf die modernen Emergenztheorien zeigt, dass diese Verlaufsstruktur völlig selbstverständlich und bei allen Neukonfigurationen komplexer Systeme regelhaft ist. Insofern ist die Reformation in ihrer Entstehung und ihrem Ablauf erklärbar, auch wenn sich die kontingenten Innovationssprünge selbst der Erklärbarkeit entziehen. (S. 24)

Ich fände es schade, den Begriff „emerging church“ aufzugeben (die Diskussion lief ja vor einigen Monaten ziemlich heiß), weil er entweder durch ein paar Radikale (bei Hamm wäre das Foucaults atomisierende Theorie) oder aber das Sperrfeuer der konservativen Reaktion, die in jeder Relativierung ihrer Grundsätze schon die Auflösung in die totale Gleichgültigkeit zu erkennen glaubt, angeblich verbrannt ist.

Zugleich ist es wichtig, dass man selbst für den Fall, dass heute wie damals eine (so sieht Hamm das frühe 16. Jahrhundert) „emergente Gesamtlage“ besteht, nicht einmal ansatzweise den Anspruch zu erheben, schon sagen zu können, was nun kommt. In allem Reden von einer neuen (je nach Zählung: zweiten oder dritten) Reformation liegt diese tiefe Zwiespalt, dass man die Grundsituation möglicherweise richtig erspürt, aber dann der Versuchung erliegt, ihren Ausgang nicht abzuwarten und sich aus den aktuellen Tendenzen willkürlich eine als den „Schlüssel“ herauszupicken, und sie per Projektion in die Zukunft zu verlängern. Ich wurde neulich genau das gefragt: Ob es meiner Meinung nach eine „Big Idea“ gäbe, an der die Zukunft der Kirche hängt. Mir fiel keine ein, und der Fragesteller hat sich auf diese Antwort hin auch nicht mehr gemeldet. Ich halte es da lieber mit dem provokativen Statement (während ich dies tippe, ahne ich schon die Kommentare) von Tom Peters: „In diesen stürmische Zeiten hat niemand eine Chance, der nicht gründlich verwirrt ist.“

Vielleicht war die IAA ja doch der perfekte Ort: Eine Industrie – und mit ihr eine ganze Gesellschaft – im Wandel. Verheißungsvolle Neuansätze und die geballte Macht alter Vorstellungen, Konzepte und Gewohnheiten. Ernst gemeinte Vorsätze und bloße Lippenbekenntnisse zu nachhaltiger Mobilität und das dumpfe Gefühl: was auch immer kommt, es wird ganz anders sein müssen und doch aus dem entstanden sein, was heute existiert.

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