Blick in den Abgrund

Die Tage saß ich in einer Runde von Verantwortlichen, die über die verschiedenen Sektenbildungen im charismatischen Milieu diskutierten. Es gibt das auch in anderen Bereichen, aber die sehen dann inhaltlich wie von der Sozialgestalt auch anders aus. Ist es nun so, dass manche einfach etwas Gutes nehmen und leichtsinnig beziehungsweise übermütig über das Ziel hinaus schießen – oder sollen bösartige Karikaturen gar die „echten“ Charismen in Verruf bringen?

Ich würde die Ursachen ja eher an anderen Stellen suchen. Ein paar Zutaten, das ergaben meine Gespräche seither, erleichtern diese Entgleisungen – freilich sind sie nicht überall und nicht immer alle auf einmal anzutreffen:

  • Ein gebrochenes Verhältnis zur Kritik – das Wort steht in charismatischen Kreisen nicht gerade hoch im Kurs
  • Eine Neigung, sich an visionären, charismatischen Anführern zu orientieren (der Mythos vom „großen Menschen“?)
  • Eine auf Intimität gepolte Spiritualität, die Mühe hat mit jeder Form von Distanz – zu sich selbst, zu Gott, in der Gemeinschaft
  • Eine auf subjektiver Erfahrung beruhende Argumentation – ich habe das so erlebt, also ist es wahr
  • Schwierigkeiten, mit Ambivalenzen umzugehen – oft wird Störendes (negative Gefühle, Zweifel, Fortbestehen von Krankheitssymptomen) ausgeblendet und das Ganze als „Glaube“ missverstanden
  • Schwierigkeiten, sich auf längere Prozesse einzulassen, und das Hoffen auf augenblickliche Veränderung
  • Schwierigkeiten, Langeweile auszuhalten, und die Suche nach dem jeweils „Neuen“

Wo das alles zusammenkommt, wird es richtig brenzlig. Gleichzeitig würde ich nicht leugnen, dass es echte Charismen existieren, umgekehrt glaube ich aber auch nicht, dass unbedingt alles „echt“ ist, was man sehnsüchtig dafür hält.

Wobei die Sehnsucht auch ein großes „Plus“ der Charismatiker ist: Da gibt es eben eine Bereitschaft, sich auf etwas einzulassen, sich auf den Weg zu machen, einen Wunsch nach konkreter Veränderung, eine große zwischenmenschliche Wärme und nicht zuletzt einen Hunger nach Gott.

(nette Parallele aus der Politik: hier lesen)

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