Emergente Christologie

Vor einer Weile habe ich hier skizziert, wie mein Doktorvater Berndt Hamm den aus der Biologie und Systemtheorie entlehnten Begriff der Emergenz gewinnbringend auf die Kirchengeschichte angewandt hat, und schon vor längerer Zeit darauf verwiesen, dass er auch bei Michael Welker in der Pneumatologie erscheint.

Nun habe ich in den letzten Tagen über der Christologie gebrütet und dazu einen Aufsatz in diesem Sammelband von Hans-Joachim Eckstein gelesen, wo er beschreibt, wie sich innerhalb kürzester Zeit, sprich: schon in den frühen Paulusbriefen, Ansätze einer „hohe Christologie“ herausgebildet haben, die den christlichen Gottesbegriff radikal verändert haben gegenüber dem jüdischen Mono- und dem heidnischen Polytheismus.

Und wieder ist es die innovative Verknüpfung zweier längst vorhandener Traditionen, die die Grundlage dafür bildet: Auf der einen Seite stehen Messias, Menschensohn, Gottesknecht – also die Erwartung, dass Gott durch konkrete Personen geschichtlich handelt und das Schicksal der Welt wendet -, auf der anderen Seite die Weisheit Gottes, die ewigen Ursprungs ist und an der Erschaffung der Welt beteiligt, auch wenn sie im Judentum nicht als richtig eigenständiges Wesen gedacht wird. Nur so war es möglich, die (durchaus später noch auftretenden) falschen Alternativen des Adoptianismus (der wäre so neu nicht gewesen in der Antike) oder des Modalismus (Gott verkleidet sich vorübergehend als Mensch) zu vermeiden.

Freilich geschah dies erst im Rückblick auf das Leben, den Tod und die Auferstehung Christi. Wie das Staunen der Jünger und der Protest der Pharisäer, Priester und Schriftgelehrten zeigt, waren zwar die Puzzleteilchen dafür zwar längst vorhanden, niemand aber hatte sie bis dahin in dieser Form zusammengesetzt und nicht jeder fand die neue Konstellation großartig. Exakt diese spannungsreiche, dynamische Verbindung von Kontinuität und Diskontinuität ist es, was der Begriff „Emergenz“ bezeichnet. Ein paar Jahrhunderte später erfindet die Kirche dafür dann den Begriff der Dreieinigkeit.

Nach vorn gedacht bedeutet das, dass Theologie durchaus zu neuen Deutungen und Begrifflichkeiten kommen kann, die nicht etwa ein Abfall von der bekannten Wahrheit sind, sondern ein tieferes Verstehen ermöglichen und alte Alternativen überwinden – also auch hier ein „dritter Weg“. Manchmal muss man wohl auch alle vorhandenen Traditionen zusammenbringen und neu kombinieren, um dem gerecht zu werden, was Gott in der Welt tut. Und um noch einmal auf Hamm und die Reformation zurückzukommen: Manchmal ist die Zeit dafür einfach reif.

Ob das auch auf unsere Situation zutrifft, wissen wir dann in fünfzig Jahren…

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