„Eierköpfe“, oder: Nürnberg ist einfach größer

„In Erlangen gibbds lauder Eierköpf“, sagte vor 30 Jahren mein Geographielehrer, selbst promovierter Historiker und Studiendirektor am humanistischen Gymnasium, aber eben Sohn eines Eisenbahners aus Nämberch, von wo er täglich mit der Bahn anreiste. Und damit war für Ihn alles gesagt über die ungleichen Nachbarn in der Metrolpolregion.

Schon über 25.000 „Eierköpfe“ haben sich bei Kanzlerin Merkel beklagt und deren Umgang mit der misslungenen Titelverteidigung ihres Jungstars kritisiert. Zugleich hält die an akademischen Fragen uninteressierte Öffentlichkeit mit großer Mehrheit (es gibt eben fünf mal so viel Nürnberger wie Erlanger…) offenbar wie unsere Kanzlerin das umfangreiche Abschreiben zum karriereförderlichen Titel für eine Bagatelle. Nur der Unterfranke Pelzig kommentiert in der Anstalt den Lapsus des Barons aus Oberfranken (der sich am eigenen Schopf aus dem akademischen Sumpf zog) süffisant und meint, wenn Abschreiben schlampiges Zitieren sei, dann wäre Ladendiebstahl „schlampiges Einkaufen“.

Vielleicht sind die fränkischen Verwerfungen ein Grad-Messer für die deutsche Landschaft. Einerseits scheint der akademische Titel (noch?) dienlich für die Karriere und öffentliches Ansehen, andererseits betrachtet man die Institution, die ihn verleiht, als einen weltfremden Haufen zerstreuter Erbsenzähler, die sich am liebsten mit abstrusen Nebensächlichkeiten befassen.

Sprich: Zur Bergkirchweih fährt der Nürnberger schon mal nach in Erlangen, aber den Rest des Jahres lebt er mit dem tröstlichen Bewusstsein, dass die Musik im Schatten von Burg und Lorenzkirche spielt. Das müssen die Eierköpfe mal kapieren, dann regen sie sich auch bestimmt wieder ab.

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Messias/bild/er

Was haben Christen im Laufe der Jahrhunderte nicht alles zusammenphantasiert, wenn es um den Antichristen und falsche Messiasse geht. Der rechte Rand der Republikaner in den USA versucht mit Verdächtigungen und Verleumdungen immer noch, Barack Obama dieses Stigma zu verpassen und sieht den Weltuntergang nahe. Nebenbei hatte man dort noch nie Probleme damit, die Welt noch näher an den Rand des erwarteten Untergangs zu bringen durch lockere Waffengesetze, globales Säbelgerassel und achselzuckendes Hinnehmen ökologischer Apokalypsen, um den „American Way of Life“ zu retten.

Sollte man das Thema aus dem kirchlichen Diskurs also besser ganz streichen? Ich glaube nicht. Alles läuft nämlich viel normaler, viel unapokalyptischer, als es oft dargestellt wurde. Falsche Messiasse kommen und gehen, hier und anderswo. Wir sehen den Unterschied zwischen Original und Plagiat, wenn wir Matthäus 16 lesen. Dort antwortet Jesus auf das Bekenntnis des Petrus (16,16) mit einem Lob, das zugleich zur (echten…) Demut mahnt, weil es auf Gottes Konto geht, dass Petrus etwas richtig erkannt hat.

Zweitens verbietet Jesus den Anwesenden, diese Einsicht an die große Glocke zu hängen. Jürgen Moltmann kommentierte einmal, dass Jesus das Bekenntnis des Petrus suspendiert hat. Der Grund ist, dass Jesus sich schon zu Beginn seines öffentlichen Wirkens entschieden hatte, die damit verbundenen Erwartungen zu enttäuschen (vgl. 4,1ff). Er kannte das öffentliche StimmungsBILD gut genug, um die Gefahr des Jubels und Beifalls aus zweifelhaften Motiven zu unterschätzen. Das letzte, was er brauchen konnte, waren grelle, polarisierende Schlagzeilen und Anhänger, denen es nur darum ging, ihre Auflage zu steigern und die eigene Macht über andere zu sichern (vgl. 20,28).

Drittens nämlich kündigt Jesus seine Hinrichtung und seinen Tod an. Die Wende im Geschick Israels und der Welt wird nicht durch einen vordergründigen Erweis seiner Überlegenheit und Dominanz, nicht durch eine Reform „von oben“ erreicht, sondern darin, dass er der Gewalt, dem Hass und dem Wunsch der Masse nach einem Sündenbock unterliegt – und sich Gott dann trotzdem, nein: genau deswegen, zu ihm stellt.

Petrus hat den letzten Gedanken wohl schon gar nicht mehr richtig gehört, als er ansetzt, Jesus zu erklären, dass der als Hoffnungsträger und Lichtgestalt sich alles, nur keine Kapitulation leisten darf. Mit dem Tipp ist er bei Jesus jedoch an der falschen Adresse. Er fängt sich den schärfsten Tadel ein, den wir in den Evangelien überhaupt finden: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (16,23). So schnell kann man also zum „Antichristen“ mutieren…

Die Passionszeit ist nicht mehr weit entfernt. Vielleicht eine gute Gelegenheit, sich zu fragen, zur Entourage welches Messias‘ wir eigentlich gehören wollen. Petrus hat die Kurve in der Messiasfrage noch rechtzeitig gekriegt, und wieder war das nicht sein Verdienst. DIe BILD-Umfrage zu dem Thema aber hätte vermutlich Barabbas mit 75% gewonnen.

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Liebe Frau Dr. Käßmann,

vor ein paar Tagen las ich, dass Ihnen der Europäische Kulturpreis für Zivilcourage verliehen werden soll. Ihre Kritiker waren empört. Pazifisten, Feministinnen und viele andere Menschen im Land freuten sich. Kurz darauf machte die Nachricht die Runde, dass Sie den Preis abgelehnt haben. Die Empörten schwiegen irritiert, die Erfreuten schwiegen aus Hochachtung.

Dass Sie den Preis nicht angenommen haben, war richtig, Schließlich haben Sie im letzten Jahr – nach den (so die Stiftung) preiswürdigen Worten zu Afghanistan – einige schwere Fehler gemacht. Nein, ich meine nicht die Alkoholfahrt, sondern Ihren Umgang damit. Sie hätten nämlich auf die ersten Enthüllungen erwidern müssen, diese Vorwürfe seien „abstrus“. Das hätte Ihre Unterstützer mobilisiert und eine kleine Medienschlacht angezettelt. Es ist zwar schwer, einer so integren Institution des öffentlichen Lebens wie Bild irgendeine Parteilichkeit oder verdeckte Interessen zu unterstellen, aber einen Versuch wäre es allemal wert.

Natürlich hätte die Polizei der Öffentlichkeit irgendwann Beweise präsentiert. Bis dahin hätten Sie die Gelegenheit gehabt, alle kirchlichen Gremien davon zu überzeugen, dass man auf eine Lichtgestalt wie Sie unmöglich verzichten kann. Und dann hätten Sie gelassen an Schritt zwei der Bewältigungsstrategie herangehen können: Scheibchenweise Geständnisse längst bekannter Fakten in verharmlosender Sprache („Einzelfall“, „eventuell“, „hier und da“, „könnte sein“) mit umfangreichen Rechtfertigungen (Verweis auf Ihre vielen Aufgaben und die Schwierigkeit, sich zu erinnern; Anspielung auf Ihre Verdienste und den Stress damals zur Zeit der Führerscheinprüfung). All das natürlich nur vor ausgewählten Journalisten.

Schließlich hätten Sie kurz vor dem Prozess vor dem Verkehrsgericht ankündigen können, dass Sie Ihren Führerschein zurückgeben. Aus freien Stücken natürlich, und weil Sie bei genauerer Betrachtung zu dem Ergebnis gekommen sind, dass da „Blödsinn“ passiert sei. Allerdings nicht ohne den Hinweis, dass dieser Verzicht Sie schmerzt, und nicht ohne Seitenhiebe auf Gegner, die Ihnen die gebührende Demut abgesprochen hätten. „Wer ohne Knöllchen ist, werfe den ersten Steinhäger„, hätte das Sonntagsblatt titeln können, und dann Anspielungen auf Verkehrsdelikte anderer machen.

Ihre Hilfstruppen hätten sich daraufhin auf Facebook und vor den Mikrofonen der Journalisten davon beeindruckt gezeigt, wie mutig Sie Fehler einräumen und die mediale Hetzjagd auf Sie kritisiert. Anspielungen darauf, dass die Staatsanwälte in Hannover eine Landplage seien, erfolgreiche Menschen hassen und kirchenfeindlich gesinnt seien, wären auch eine Überlegung wert gewesen. Was auf keinen Fall fehlen darf, wäre der Hinweis, dass hier Männer versuchen, eine starke Frau zur Strecke zu bringen, oder Spekulationen darüber, ob denn die Rüstungslobby, die Sie mit ihrer Kritik am Krieg vergrätzt hatten, vielleicht auch den Alkomaten hergestellt (und womöglich frisiert?) hatte.

Der Rat der EKD hätte erklärt, dass man Sie als Bischöfin und nicht als Fahrerin gewählt hätte, dass Sie ohnehin selten selbst am Steuer sitzen und dass ein Führerschein keine Bedingung für kirchliche Ämter ist. (Fußnote: Wo war Ihr Fahrer eigentlich an diesem Abend – und könnte man ihn dafür vielleicht schnell noch feuern?) Und dann hätte jemand gesagt: Nichts ist gut in Deutschland, so lange wir uns hier über Fehler im Promillebereich ereifern, während in Afghanistan und anderswo Menschen sterben.

Und wo wir schon dabei sind: Eigentlich müsste die Öffentlichkeit doch dankbar sein dafür, wie Sie das Thema Alkoholmissbrauch und Risiken im Straßenverkehr wieder ins Gespräch gebracht haben! Womöglich werden so viele hundert, ach was, tausende schwerer Unfälle verhindert weil nach diesem Vorfall nicht nur Sie so vorbildlich in sich gegangen sind, sondern auch viele andere ihre Trink- und Fahrgewohnheiten geändert haben.

All das haben Sie unterlassen und damit bewiesen, dass Sie die deutsche Öffentlichkeit nicht verstehen, die lieber verbogene Helden als gar keine möchte, so lange die nur gut aussehen und jugendlich-dynamisch rüberkommen. Zivilcourage hat in der Kultur Europas doch nichts mit Mut zu tun, sondern mit der Dreistigk… Durchsetzungsfähigkeit, das Offensichtliche beharrlich kleinzureden, wegzulächeln und auf bessere Tage oder die Vergesslichkeit der Leute zu hoffen.

Dass Sie nun nicht etwa ihre Schwester oder einen Pressereferenten zur Preisverleihung in die Paulskirche schicken, sondern ganz verzichten, weckt dennoch Hoffnung. Es zeigt, dass Sie – spät, aber immerhin – die perfide Strategie der obskuren Europäischen Kulturstiftung durchschaut haben, die im Geiste von Wikileaks & Co einen gefährlichen Anschlag auf unsere Gesellschaft plant und einen Keil in die Beziehung zu wichtigen Verbündeten südlich der Alpen zu treiben versucht.

Sie zeichnen sich damit im Übrigen auch als wahrhaft konservative Denkerin aus. Und dafür lässt sich mit Sicherheit ein anderer Preis finden. Den sollten Sie dann mit einem gerüttelt Maß an Demut vor dieser unserer aller Kultur auch bitteschön annehmen.

Mit freundlichen Grüßen,

Ihr Peter Aschoff

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Weisheit der Woche: Freiheit und Verachtung

Es gibt neuerdings einen Stil der ostentativ zur Schau gestellten Verachtung von Minderheiten. Die Freiheit zur Herabsetzung wird von Sarrazin ausdrücklich gefordert, und darin steckt eine Lektion des Karikaturenstreits. Diese Lektion lautet: Meinungsfreiheit zeigt sich gerade in der Beleidigung, in der Kränkung. Das ist ein Test: Wer dazu gehören will, muss sich eben auch beleidigen lassen. Und umgekehrt sind diejenigen, die aggressiv beleidigen, wahre Helden.

FAZ-Feuilletonist Patrick Bahners im Zeit-Interview über Integration und Islamfeindlichkeit
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Wright, Luther und die Ethik

Nachdem ich am Samstag Tom Wrights spannende Gedanken zur christlichen Ethik und neutestamentlichen Tugendlehre gehört habe, habe ich etwas in meinen Sachen gekramt und bin bei Luthers Ethik gelandet. Wright hat Luthers negative Bewertung des Gesetzes im Kommentar zum Galaterbrief kritisiert, aber man kann Luther vielleicht auch anders lesen, indem man zum Beispiel vom Sermon von den guten Werken ausgeht.

Etwas verkürzt gesagt funktioniert das dann so, dass im Wort der Schrift eine Dialektik von Gesetz und Evangelium (durchaus im Sinne von Anspruch und Zuspruch) zu finden ist. Das Gesetz beschreibt dabei die überführende und richtende Wirkung, das Evangelium die glauben weckende und befreiende. Beides ist aber nötig, denn es entspricht der Dialektik des Christen, der auch unter der Gnade ein Angefochtener bleibt. Einen „tertius usus“ wie in der reformierten Theologie (für die „Wiedergeborenen“ als heilsame und positive Weisung zum Leben) braucht Luther daher gar nicht: Es reicht, das Gebot als Korrektur zu haben, die den Christen auf seinem Weg hält – und genau so hat es Tom Wright mit dem Bild von der „Leitplanke“ auch beschrieben. Es geht also Luther wie Wright darum, der drohenden Gesetzlichkeit einer primär an Normen orientierten Ethik auszuweichen, ohne einer denkfaulen, launischen „Spontaneität“ das Wort zu reden, die selbstbezogen nur das tut, wozu sie gerade aufgelegt ist.

Luther setzt sich im Jahr 1520 auch kritisch mit der aristotelischen Tugendlehre auseinander. Vor allem weigert er sich, Glauben als menschliche Tugend zu bezeichnen, weil er den Glauben (im Sinne des erneuerten Herzens von Jeremia 31 und Ezechiel 36) als ein Werk Gottes versteht. Bei Wright wäre hier vielleicht der Begriff „Neuschöpfung“ die beste Entsprechung. Glaube bei Luther ist der „Christus in uns“ oder das In-Christus-Sein der Glaubenden. Man darf ihn weder als Zustimmung zur kirchlichen Lehre intellektualisieren noch als einen Affekt unter anderen psychologisiseren.

Aus dem Glauben heraus wird der Mensch dann aber auch für Luther ungemein aktiv, und hier begegnet uns die Verschränkung von eigenem Handeln und menschlicher Verantwortung auf der einen Seite und dem Wirken des Geistes und der Gnade auf der anderen Seite, wie Kolosser 1,28 es beispielsweise beschreibt. Die wesentliche Lebensäußerung des Glaubens ist die Liebe im Sinne des Doppelgebotes, nachdem Luther den Glauben schon als die Erfüllung des ersten Gebots (Exodus 20,2f; vgl. Dtn 6,4) bezeichnet hat.

Alle anderen „guten Werke“, für die Luther viele positive Worte findet, sind durch die Liebe qualifiziert. Luther wehrt hier eine Bevorzugung kultisch-religiöser Tätigkeiten ab, und das kann m.E. auch analog zur Kritik von Jesus und später Paulus am Kultgesetz verstanden werden, vor allem auch als Analogie zur prophetischen Kultkritik etwa bei Amos. Unter den guten Werken gibt es keine „besseren“. Damit befreit Luther den Gottesdienst und das spirituelle Leben, nicht mehr Ausweis eines höheren Status bei Gott zu sein, sondern eine bewusste Gestaltung der Christusbeziehung. Gottesdienst, Gebet und Askese (konkret: Fasten, Wachen und Arbeiten) dienen der Stärkung des Glaubens, und darin liegt ihr Wert, denn die verwandelnde Kraft des geistlichen Lebens wirkt sich auf das Leben in der Welt aus. Das Lob Gottes hat so beim frühen Luther durchaus auch eine politische Dimension:

Hier müssen wir widerstreben zum ersten allem Unrecht, wo die Wahrheit oder Gerechtigkeit Gewalt und Not leidet, und wir müssen in demselben keinen Unterschied der Personen haben wie etliche tun, die gar fleißig und emsig fechten für das Unrecht, das den reichen, gewaltigen Freunden geschieht, aber wo es dem Armen oder Verachteten oder Feinden geschieht, sind sie wohl still und geduldig. (WA 6,226)

Luther wendet die zehn Gebote in seiner Auslegung sämtlich ins Positive und weist auf das hin, was Glaubende tun sollen und können. Ein klares Indiz dafür, dass er sie keineswegs nur negativ betrachtet, sondern in ihnen auch eine praktischen Anleitung erkennt. Freilich hätte man sich die hier so klar formulierte „Option für die Armen“ auch in Luthers unglücklichem Agieren im Bauernkrieg gewünscht. Das dürfen heutige Lutheraner gern besser machen und dabei von Tom Wright lernen, der gerade auch die gesellschaftliche Verantwortung betont, die aus dem Evangelium erwächst.

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Noch etwas schwindelig…

Ich bin zurück aus Marburg vom Studientag Gesellschaftstransformation mit N.T. Wright. Gestern habe ich noch beim Einschlafen versucht, englische Bandwurmsätze, deren Ende ich vergessen hatte, ins Deutsche zu übersetzen. Aber der wesentliche Eindruck dieser zwei Tage war ein anderer. Ich habe ja schon ein paar Professoren und Bischöfe getroffen, aber noch keinen (und vor allem keinen Deutschen…), der so zugänglich, bescheiden und freundlich war wie Tom Wright.

Der Mann hätte mit über 50 Bücher, die er veröffentlich hat (und einer bemerkenswerten kirchlichen Karriere) mehr Grund als viele andere, akademischen Dünkel an den Tag zu legen. Tut er aber nicht und lehnt damit Aristoteles‘ Sicht von Stolz als einer positiven Haltung nicht nur theoretisch ab, er vermeidet ihn auch praktisch.

Alle, die von Wright noch nichts gelesen haben, können aus einer ständig wachsenden Zahl deutscher Übersetzungen seiner Werke wählen. Brandneu sind zwei dazu gekommen. Für die theologisch Interessierten ist Das Neue Testament und das Volk Gottes ein heißer Tipp, trotz anspruchsvollen Inhalts gut lesbar und zu einem mehr als fairen Preis.

Und wer es gerne praktischer und noch verständlicher haben möchte, kann sich die deutsche Fassung von Virtue Reborn aus der Edition Emergent zu Gemüte führen: Glaube – und dann?: von der Transformation des Charakters. Für die Redaktion von Christianiy Today das beste Buch in der Kategorie Theologie/Ethik im Jahr 2011! Hier gibt’s übrigens eine Rezension der amerikanischen Ausgabe von Scot McKnight.

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(danke an Timm Ziegenthaler für das Foto!)

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Gott und die „säkulare Jugend“

Und noch ein Statement aus der islamischen Welt, weil es gerade so spannend ist. Heute berichtet die FAZ über den Hintergrund der Proteste in Kairo unter anderem dies:

Einer der Muslimbrüder sagte auf dem Tahrir-Platz, immer habe er geglaubt, Gott habe die Muslimbruderschaft beauftragt, das Regime zu stürzen. Nun aber sehe er, dass Gott damit die säkulare Jugend beauftragt habe. Offenbar müssten die Islamisten bescheidener sein und diese säkulare Jugend als Partner akzeptieren, leitete er daraus ab.

Hut ab vor der Einsicht! Wenn sich das mit der Bescheidenheit mal in allen christlichen Kirchen so gründlich durchsetzen würde. Oder bei den Mullahs im Iran!

Inzwischen teilen die Ägypter ihre Erfahrungen mit anderen Aktivisten. Die Hoffnung dabei ist groß:

Wenn Gruppen wie unsere in anderen Ländern auf die Straße gehen und sie ausdauernd sind wie wir, könnte dies das Ende aller Regime bedeuten.

Und Europa? Das denkt erst mal daran, wie man Flüchtlinge abschreckt und „brutalstmöglichst“ wieder los wird, anstatt zu akzeptieren, dass man entweder jetzt für einen Wandel zu Demokratie und Humanität zahlt, oder die nächsten paar Jahrzehnte Geld für Auslandseinsätze oder steigende Energiepreise hinblättert, falls der Suezkanal dicht ist oder andere Schockwellen uns erreichen.

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Die leidige Kritik

Das kommt mir doch bekannt vor: Fromme Muslime müssen beim Studium der Islamwissenschaften an deutschen Unis erst mal einen kleinen Kulturschock verdauen und lernen, „zwischen eigenem religiösen Empfinden und der wissenschaftlichen Betrachtung zu unterscheiden“, berichtet die Zeit heute.

Allmählich gewöhnen sich die meisten daran. Trotzdem ist kritische Exegese unter Doktoranden anscheinend deutlich unpopulärer als eine Dissertation über historische und literarische Fragen. Manche lehnen sie auch rundweg ab. Einer Studentin etwa

… graut es vor dem Koranexegese-Seminar, in dem es um die wissenschaftliche Diskussion des heiligen Buches geht. Sie sagt, dass ein Nichtmuslim den Koran gar nicht korrekt erklären könne. Würde er den Koran nämlich verstehen, wäre er längst konvertiert, wäre also Muslim.

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Weisheit der Woche: christliche Identität

Ganz ähnlich wie Juden und Muslime können Christen nie in erster Linie Asiaten oder Amerikaner, Kroaten, Russen oder Tutsis sein, und erst dann Christen. Im Kern christlicher Identität liegt ein alles umfassender Loyalitätswechsel, von einer bestehenden Kultur und ihren Göttern hin zu dem Gott aller Kulturen.

Mirolsav Volf, Exclusion & Embrace, S. 40

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Geistreicher Prophet

Wie christlicher Glaube, richtig verstanden, im modernen Leben und auf ganz anderen Themenfeldern zu neuen, hilfreichen Denkansätzen führen kann, das hat Marshall McLuhan („the medium is the message“) vorgemacht. Zum 100. Geburtstag des „Medienpropheten“ merkt die SZ heute folgendes an:

Dieser Glaube an das Medium als Botschaft hat einen interessanten Subtext: den Glauben. Marshall McLuhan ist früh zum Katholizismus übergetreten. Es wurde schon oft daran erinnert, worin der zentrale Glaubensinhalt des Christentums besteht: Dass nämlich Gott nicht als Lichtgestalt, Goldregen oder Godzilla zu den Menschen gekommen ist – sondern als Jesus Christus.

Um zur Welt zu kommen, wählt der allmächtige Gott die Gestalt eines armen Zimmermanns, darin steckt die ganze Geschichte der Erlösung des Niedrigen durch das Hohe. Gott wählte sich einen sterblichen Menschen als Medium, das ist die frohe Botschaft des Christentums.

Diese Art Messianismus hat McLuhan auf andere Medien übertragen. Und zwar mit Vorliebe auf die neuen Medien, die immer eine Zeitlang verpönt und als niedrig abgetan werden. Fernsehen macht dumm? Unsinn, es ist der Beginn einer neuen Zeit. Wobei auch die These, Fernsehen mache blöd und faul, die gleichen Prämissen teilt: Es ist dann eben ein falscher Messias, der die Leute in die Hölle führt.

„Inkarnatorisch“ hat sich ja in der missionalen Szene zum Modewort entwickelt. Vielleicht haben wir das (nicht das Konzept, aber seine plötzliche Populariltät) auch McLuhan zu verdanken. Wie auch immer, hier noch ein paar Bonmots des Meisters:

Only puny secrets need protection. Big discoveries are protected by public incredulity.

We look at the present through a rear-view mirror.

We march backwards into the future.

The trouble with a cheap, specialized education is that you never stop paying for it.

The ignorance of how to use new knowledge stockpiles exponentially.

Food for the mind is like food for the body: the inputs are never the same as the outputs.

The missing link created far more interest than all the chains and explanations of being.

(noch mehr davon gibt’s hier)

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Hochleistungschristen

In der katholischen Kirche wird – mal wieder – über den Zölibat diskutiert, den Pflichtzölibat für Priester freilich, nicht den „freiwilligen“ der Ordensleute. Nun antwortet Kardinal Meisner aus Köln (danke an Simon de Vries für den Tipp!) den Kritikern und macht unmissverständlich deutlich, dass daran nicht zu rütteln ist, weil es hier um die Identität der katholischen Kirche, im Grunde aber des ganzen Christentums geht. Überraschen wird das niemanden. Interessant dagegen ist, wer da wie argumentiert. Wir finden etwa gegen Ende des Textes das Alles-oder-nichts-Argument:

Vergessen wir nicht: Ohne Priester keine Eucharistie, und ohne Eucharistie keine Kirche.

Ins gleich Horn stößt Matthias Matussek im Spiegel, der jedes Rütteln am Zölibat mit der „Abrissbirne“ gleichsetzt. In beiden Fällen kann das als Reduktion von Kirche auf die Hierarchie verstanden werden, die das Volk aus dem Blick verliert oder zu Statisten und Zuschauern degradiert. Und ein klitzekleines bisschen erinnert es an den einen oder anderen Despoten, der sich als letztes Bollwerk gegen das Chaos der Anarchie zu inszenieren versucht.

Kein Wort verlieren beide darüber, dass die Kirche bis 1139 auch ohne den verpflichtenden Zölibat aller Priester auch ganz ordentlich lebte. Viel spannender ist aber das Einstiegsargument Meisners, das ebenfalls eine steile Alternative aufmacht, die ihrerseits (um das Unwort des Jahres zu bemühen) für alternativlos erklärt wird:

Vor dem Zölibat gibt es nur eine Alternative: Entweder es gibt Gott, oder der zölibatär lebende Mensch ist verrückt. Eine andere Alternative gibt es nicht!

Nun gibt es nachweislich Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen allein oder enthaltsam leben und weder katholisch noch verrückt sind. Zudem kann durchaus auch beides zutreffen, es gibt ja leider eine große Bandbreite an religiösen Neurosen – also gilt keineswegs ein so klares Entweder/Oder. Aber wenn der unverheiratete Priester zum lebenden Gottesbeweis stilisiert wird, ist er damit nicht zum „Erfolg“ dieser Lebensform verdammt, weil ein Scheitern auch ein Verrat an Gott wäre? Matussek wählt etwas andere Worte und sieht im kirchlich geregelten Zölibat einen Gegenentwurf zur bürgerlichen Existenz:

Der zölibatäre Priester lebt im Angesicht des Heiligen. Er ist nicht der Kumpel, den man in der Kneipe trifft. Er ist die auratische Respektsperson, der man aus einer Andachtsdistanz heraus begegnet. Wollen wir das aufgeben für die ganz gewöhnlichen Klarsichtfolien-Betriebsnudeln, denen man in Bundestagsausschüssen oder auf Kirche-von-unten-Flohmärkten begegnen kann?

Ich kann verstehen, dass immer weniger Menschen diesen Heldenmut in sich entdecken, der einen die Einsamkeit des Säulenheiligen (oder Krimi-Kommissars) wählen lässt, des Spitzenasketen, an dem andere sich orientieren sollen und der einzig bei immer weniger und immer überlasteteren Kollegen Schwäche zeigen darf. Und scheitern nicht auch viele Leistungssportler an dem Erwartungsdruck, ständig Höchstleistungen produzieren zu müssen?

Aber warum sollte Heiraten nicht mindestens ebenso subversiv sein – oder noch subversiver? Zygmunt Bauman etwa sprach jüngst davon, dass das Konsumdenken längst auch zwischenmenschliche Beziehungen dominiert:

Es gibt keinen Grund, einem Produkt gegenüber loyal zu sein, wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt und vielversprechendere Alternativen vorhanden sind. Da alle oder zumindest fast alle Mitglieder in unserer Gesellschaft von Konsumenten dieses Muster akzeptieren, ist es kein Wunder, dass wir auch selbst von den anderen gemäß diesem Muster behandelt werden … Wir wollen selbst nachgefragt werden und damit begehrenswert für andere sein. Darum müssen wir uns ständig in möglichst attraktiver Form präsentieren. Der Mensch verwandelt sich in eine Ware.

Matusseks (und Meisners) Beschreibung des Heiligen wirkt auch deshalb befremdlich, weil sie letztlich vielleicht doch einer zwar religiösen, aber nicht genuin christlichen Logik folgt, wie der Priester und Kirchenhistoriker Arnold Angenendt in der SZ erläutert:

Die Forderung der Ehelosigkeit für alle Altardiener kommt von woanders her, aus dem Feld der kultischen Reinheit. Diese besagt: Heiliges darf nur „rein“ berührt werden. Als Inbegriff dafür stehen die „reinen Hände“. Unreinheit zieht man sich zu durch das Essen bestimmter Nahrungssorten, durch Berühren von Toten, besonders aber durch Beflecktwerden mit Sexualstoffen, mit Mannessamen sowie Menstruations- und Geburtsblut. Wir begegnen hier einem weltweiten Religionsphänomen, anzutreffen genauso in Japan wie in China, in Griechenland wie in Rom, insbesondere in Israel.

Jesus hat dieses Reinheitsverständnis überwunden und die ersten Christen hatten mehrheitlich verheiratete Amtsträger, die Spätantike brachte das „Alte“ aber zurück. Das zweite Laterankonzil begründet das Verbot der Ehe bei Priestern mit dem Hinweis, es sei „unwürdig, dass sie sich geschlechtlichen Ausschweifungen und Unreinheiten hingeben“, schreibt Angenendt. Laien durften mit der Zeit bei der Kommunion die Hostie nicht mehr in die unreine Hand bekommen, sondern vom Priester direkt in den Mund. Er folgert:

Wer indes noch grundsätzlich darauf besteht, Priestertum sei nur zölibatär möglich wie auch die Mundkommunion die einzig mögliche Empfangsform, leugnet die religionsgeschichtliche Revolution Jesu Christi.

Als ich diesen Satz gelesen hatte, habe ich Matusseks Text noch einmal durchgesehen – von Jesus ist da ehrlicherweise gar nicht die Rede. Und Meisner nennt Jesus zwar als Vorbild zölibatären Lebens, schweigt aber zu Jesu Kritik an „Menschensatzungen“, damaligen (und heutigen!) Vorstellungen von ritueller Reinheit und einem hierarchischen Verständnis von Kirche in Sinne einer Heiligkeitspyramide, an deren Spitze unverheiratete Männer stehen müssen.

Was beide auch nicht thematisieren, ist die unübersehbare Kluft, die sich derzeit zwischen Hierarchie und Kirchenvolk auftut – weniger die Kirchenaustritte, sondern eher die verbreitete Resignation an der Basis. Die hat auch damit zu tun, dass zwar von offizieller Seite hohe Ideale propagiert werden, während man zugleich verschweigt oder gar vertuscht, dass viele Priester daran scheitern – nicht nur in Afrika. Klar kann man das damit abtun, dass hier jemand sich eben in seiner Berufung geirrt hat oder dass die Kritik am Zölibat, mangelnde Achtung vor dem Amt beziehungsweise die Sexualisierung der Gesellschaft daran schuld seien.

Angenendt argumentiert anders als seine Kontrahenten. Sachlicher und biblischer – während Matussek polemisiert und Meisner verklärt. Aber da die katholische Kirche den Priestermangel ja nun mit iPhone Apps zur automatisierten Beichte kompensiert, kann man sich das vielleicht auch leisten. Vielleicht aber auch nicht, schließlich sind in den letzten Jahrzehnten schon etliche starre Systeme ins Straucheln geraten, wie Walter Färber hier so schön dargestellt hat. Meisner suggeriert, das Unbehagen mit dem Zölibat sei eigentlich in der Furcht begründet, dass Gott einem zu nahe kommen könnte. Das könnte sein. Könnte aber auch gut sein, dass die Furcht vor Reformen, vor einem Ende der Hierarchie in ihrer gegenwärtigen Form, genau dieselben Ursachen hat…

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„pornographische Anbetung“

Ein grandios wütender Kommentar von Alexander Gorkow heute in der SZ zur Verleihung der goldenen Kamera, dem Heiratsantrag von Monica Lierhaus und der Frage, was unser Fernsehen eigentlich im Innersten antreibt:

Hinter den Kulissen von deutschen TV-Unterhaltungsformaten finden rituelle Gebete statt. Es geht in diesen Gebeten selten um die Hoffnung auf den großen Erkenntnisgewinn während einer bevorstehenden Sendung. Es geht selten auch um jene Subversion, die Engländer und Amerikaner beherrschen (…) Es geht in unserem Gebührenfernsehen – dem mit jährlich rund acht Milliarden Euro teuersten der Welt – in Ermangelung an Stil, Humor und Vertrauen in die Zuschauer wenig um Sprache. Es geht stattdessen um eine Art Gott, und es ist dies der Gott des emotionalen Augenblicks.

Es ist eine inzwischen quasi pornographische Anbetung des einen, großen und bitte absolut geilen Moments, der ins Bild muss – und heute können wir sagen: koste es, was es wolle, zum Beispiel die Würde einer Frau wie Monica Lierhaus. Es wird wegen der Fixierung der Sender auf diesen Moment kein Mensch mehr sagen können, wer zum Beispiel bei welchem „Bambi“ oder „Fernsehpreis“ mit einer Trophäe nach Hause ging. Es wird sich hingegen jeder an den Auftritt des todkranken Rudi Carrell erinnern, oder daran, wie Marcel Reich-Ranicki plötzlich herumbrüllte, weil ihm das Niveau einer Preisverleihung mit einem Mal zu niedrig vorgekommen war.

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Fürs Protokoll

Es ist ja schon vielen Weisen und Heiligen untergejubelt worden, aber das bekannte „Gelassenheitsgebet“ stammt höchstwahrscheinlich von dem deutsch-amerikanischen Theologen Reinhold H. Niebuhr (1892-1971). Hier ist es, falls jemand es noch nicht kennt:

Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Und nochmal auf englisch:

God, grant me the serenity to accept the things I cannot change,
Courage to change the things I can,
And wisdom to know the difference.
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Lebensabschnittsgemeinden

Im Gespräch mit einem Freund kam ich darauf, dass es (vor allem in größeren Städten) das Phänomen einzelner Gemeinden gibt, die viele junge Leute anziehen – weil viele andere junge Leute da sind und man dort gute Aussichten hat, bei der Partnersuche fündig zu werden. Ist das Kunststück dann geschafft, kommt gar das erste Kind, dann sind die Paare so schnell wieder verschwunden, wie sie dort aufgetaucht waren.

Die Pastoren dieser Gemeinden glauben gerne, dass der Zulauf mit ihrer Predigtgabe zu tun hat, während viele Gottesdienstbesucher ein Auge anbetend schließen und mit dem anderen nach dem/der potenziellen Angebeteten Ausschau halten. Daran ist ja auch nichts verkehrt, so lange man sich eingesteht, wie die Gruppendynamik tatsächlich funktioniert. Vielleicht sollte man das ja nicht „Gemeinde“ nennen, sondern „Worship-Dating“? Aber dann würde es vielleicht nicht mehr so gut funktionieren.

Wo ich schon mal dabei war, fragte ich mich gleich weiter, ob dann die Gemeinde für Eltern von Kindergarten- und Schulkindern folgt, und auch dafür spricht einiges. Viele Väter und Mütter entscheiden sich für die xy-Gemeinde und deren Gottesdienst, weil der Nachwuchs dort am besten „versorgt“ ist. Und auch da denken manche Pastoren irrigerweise, es seien ihre attraktiven Predigten, die die Gemeinde zum Blühen bringen. Wenn die Kinder groß genug sind, wandern sie und ihre Eltern allmählich weiter – nicht unbedingt in dieselbe Richtung. Und dann erst stehen die Chancen gut, dass Predigten – neben dem Gospel- oder Bachchor, der ausschlafkompatiblen oder sonntagswandererfreundlichen Gottesdienstzeit, zumutbarer Entfernung, Raumtemperatur und dezenter Beleuchtung oder Verdunkelung – die Entscheidung irgendwie beeinflussen.

Parallel gibt es das Phänomen der Ein-Generationen-Gemeinde: Sie haben als Jugendgruppe oder junge Erwachsene angefangen und werden nun gemeinsam alt. Irgendwann haben sie sich alle ineinander verliebt, ein paar haben auch heraus- oder hineingeheiratet, dann haben fast alle Kinder bekommen. Und als man die gemeinsam groß gezogen hatte, sind die in eine Gemeinde abgewandert, wo sie einen Partner finden konnten. Die Eltern werden gemeinsam älter und …

… ja, was nun?

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Der ungeliebte Christus

Ich kann ja gut verstehen, wie es so weit kommen konnte: Da ist der Pfarrer, der in einer so hölzernen Art und stereotyp immerzu nur von „Jesus Christus“ spricht, als wären das Vor- und Nachname wie in „Herbert Müller“ – und weil er immer den Nachnamen dazu sagt, erweckt das zugleich den Anschein, als kenne er diesen Herrn nicht besonders gut.

Da sind theologische und Frömmigkeitstraditionen, in denen die göttliche Seite auf Kosten des Menschlichen so hervorgekehrt wurde, dass ihr „Christus“ immer blutleerer und unnahbarer wurde. Da sind zuletzt die Esoteriker, die den Christustitel zu einer Chiffre umgebaut haben, unter der nun alles Mögliche an abtrusen und diffusen Vorstellungen von Weltseelen und Energieströmen firmiert.

Im Gegenzug haben einige den Christustitel komplett ausrangiert. Nicht nur in ihrer Gebetsanrede, sondern auch in ihrer Alltagstheologie. Nur so lässt es sich erklären, dass der Ausdruck „Leib Christi“ aus 1. Korinther 12 nicht nur in der Predigtsprache, sondern auch in der einen oder anderen Publikation als „Leib Jesu“ erscheint. Aber eben hier beginnt die Begriffsverschiebung auch zu einer Sinnverschiebung zu werden, die am Ende einen privatisierten Jesus ergibt, und die Gemeinde und Kirche auf eine Art Fanclub reduziert.

Christus ist ja die griechische Übersetzung des hebräischen Messiastitels. Dass Jesus der Christus – des Messias Gottes – ist, ist eines der Kernbekenntnisse des Neuen Testaments und der ersten Christen. Wie Jesus diese Messiasrolle annahm und ausfüllte, war höchst umstritten und ist es bis heute, nicht nur zwischen Christen und Juden, sondern auch in der Diskussion um die verschiedenen Formen politischer Theologie durch die Jahrhunderte.

Vielleicht kann man es so sagen: Der Name Jesus (damals durchaus verbreitet) betont mehr die menschliche Person, während Titel wie Messias/Christus, „Menschensohn“ oder „Sohn Davids“ die (heils-)geschichtliche Rolle beschreiben. Beides lässt sich nicht trennen, aber man muss die Medaille immer mal wieder drehen, damit klar ist, dass sie diese beiden Seiten auch tatsächlich hat. Bei „Jesus“ denken wir zu Recht erst einmal an den Mann aus Fleisch und Blut, zum Anfassen und auf Augenhöhe mit anderen Menschen, einer von uns, der vertraute Freund. Eben dieser intime Freund jedoch ist in einer einmaligen Mission unterwegs – auch heute noch. Sie ist erst abgeschlossen, wenn alles Leid besiegt ist, alle Tränen getrocknet, wenn nicht nur der Hass, sondern auch der Tod überwunden und Gott „alles in allem“ ist.

Um nicht zu vergessen, dass „unser“ Jesus nach dem Bekenntnis der ersten Christen (man hat sie damals spöttisch kleine „Christusse“ genannt, aber gerade nicht kleine „Jesusse“!) auch an der Schöpfung der Welt beteiligt war, dass er der göttliche Logos ist, in dem sich das Geheimnis der Welt erschließt – nicht nur der „persönliche Heiland“, sondern der Erlöser des Kosmos – dafür brauchen wir unter anderem den Christustitel. Nicht als distanzierenden „Nachnamen“, sondern damit wir, als der Leib Christi, uns der wahren Dimensionen von Gottes Handeln in der Welt und im Zusammenhang damit auch unserer eigenen Rolle als Leib Christi bewusst werden. Das scheint mir auch Paulus am Ende von Epheser 3 im Sinn zu haben, wenn er schreibt:

In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.

Er aber, der durch die Macht, die in uns wirkt, unendlich viel mehr tun kann, als wir erbitten oder uns ausdenken können, er werde verherrlicht durch die Kirche und durch Christus Jesus in allen Generationen, für ewige Zeiten. Amen.

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