Politisches Beten: In welchem Boot sitzen wir?

Nach einem Gespräch über Form und Gestaltung von Fürbittegebeten im Gottesdienst bin ich heute etwas ins Nachdenken gekommen. Der „locus classicus“ dafür steht in 1. Timotheus 2:

Vor allem fordere ich zu Bitten und Gebeten, zu Fürbitte und Danksagung auf, und zwar für alle Menschen, für die Herrscher und für alle, die Macht ausüben, damit wir in aller Frömmigkeit und Rechtschaffenheit ungestört und ruhig leben können. Das ist recht und gefällt Gott, unserem Retter;

Über weite Strecken der Kirchengeschichte, zumindest seit das Christentum staatstragend wurde, ist dieser Text eher unkritisch im Blick auf die „Obrigkeit“ gelesen worden. Und man kann ihn ja tatsächlich so quietistisch deuten: Aufgabe des Staates ist es, die gesellschaftliche Ordnung zu wahren, die den Frommen möglichst ungehinderte Mission erlaubt, durch die andere dann in den Himmel kommen. Dass die Ordnung im hier und jetzt gelegentliche Härten und Kollateralschäden verursacht, spielt im Vergleich zum ewigen Gewinn keine große Rolle, daher mischen sich die Christen auch nicht allzu sehr in die Politik ein.

In einer Feudalgesellschaft mag der Spielraum für Reform (geschweige denn Mitbestimmung in größerem Stil) ja recht gering gewesen sein und das Gebet die einzige Hoffnung auf Veränderung – in dem Sinne, dass ein ungerechter Monarch durch einen „rechtschaffenen“ ersetzt wird (was meistens durch das Ableben des ersteren erfolgte). Aber passt so etwas in eine demokratische Gesellschaft?

Freilich gibt es auch das andere Extrem, wo das politische Gebet so kritisch ausfällt, dass man den jeweils Regierenden immer das Schlimmste unterstellt und sie vor Gott eher denunziert als segnet. dann ist man ebenso undifferenziert dagegen wie man vorher dafür war. Nun kann es durchaus sein, dass man in einer konkreten Situation tatsächlich so beten muss. Damit es trotzdem nicht selbstgerecht wird, müsste man sich aber wohl immer vor Augen halten

  • „die da oben“ sind genau „wie wir hier unten“ Menschen mit Schwächen und Fehlern, immer von Korruption bedroht, aber eben oft genug auch ernsthaft um das Gute bemüht, so dass mal das eine, mal das andere die Oberhand behält.
  • Sie sind ”unsere“ Regierung, auch wenn wir nicht für sie gestimmt haben, weil sich die Mehrheit für sie ausgesprochen – hat und sie die Werte und Ziele dieser Mehrheit (oft genug auch unsere eigenen) repräsentieren (oder zum Zeitpunkt der Wahl wenigstens repräsentiert haben). Anders gesagt: Sie sind auch ein Spiegel, in dem wir uns selbst betrachten sollten.
  • So wie wir sind sie nicht außer Gottes Reichweite, wir müssen also die Hoffnung auf Umkehr und Besserung wach halten.
  • Sie sind in ihrer Funktion manchmal Kräften und Konflikten ausgesetzt, die wir so nicht erleben, wird dürfen sie daher zwar durchaus kritisieren, sollten dabei aber nicht unbarmherzig oder gehässig werden.
  • Wenn wir wollen, dass tatsächlich mehr „gute Leute“ als Wichtigtuer und Machtjunkies in die Politik gehen, dürfen wir Politiker nicht pauschal schlecht machen (daher erwähnt Paulus den Dank ganz zu Recht), sondern wir sollten uns auf eine durchaus spannungsreiche Beziehung zu ihnen und ihrer Arbeit einlassen und von uns aus nach geeigneten positiven Anknüpfungspunkten suchen.

Nehmen wir mal ein aktuelles Thema: Das beschämende Flüchtlingsdrama im Mittelmeer. Dass Menschen dort auf dem Meer verdursten und wie selbst die Überlebenden behandelt werden, ist ein riesiger Skandal. Dass die Bundesregierung Italien mit dem Problem weitgehend allein lässt (im vollen Bewusstsein, was der Kurs der Berlusconi-Regierung für die Betroffenen bedeutet), ist schäbig. Dass sich die Mehrheit der Leute in Europa weit mehr für den European Song Contest interessiert hat, auch. Die Versuchung, gleichgültig wegzusehen und das schmutzige Geschäft nützlichen Bösewichtern zu überlassen, die man bei Bedarf dann eines schönen Tages noch symbolisch bestrafen kann (und sei es mit der Moralkeule), kennen wir nämlich alle. Es geht nicht um eine Haltung der „Neutralität“, sondern darum, als schon in das Problem verwickelte Menschen sich Gott zuzuwenden und von da aus nach Lösungen zu suchen.

Hier könnte das Gebet also ansetzen: Dass uns allen das Flüchtlingsproblem, die Kriege und Armut Afrikas lästig sind und wir im tiefsten Herzensgrund wünschen, Gott oder wer auch immer würde das für uns in aller Stille erledigen, natürlich ohne unseren Wohlstand dabei zu schmälern. Wir könnten weiter beten für mutige Leute in der Politik, im öffentlichen Leben und bei den Grenzschützern vor Ort, dass sie nicht resignieren, sondern um der Menschlichkeit willen Vorschriften ignorieren, gegen sie mutig protestieren oder, wo immer möglich, sie ändern. Wir können für Frieden und gute Lebensbedingungen in den Heimatländern der Flüchtlinge beten und für energischere Anstrengungen europäischer Politiker, dazu beizutragen – etwa durch faire Handelsbedingungen, die uns freilich etwas kosten werden. Wir können für politische Aktivisten beten und dafür, dass sie Zulauf und Erfolg haben mit ihren Aktionen. Und am Ende könnten wir um Mut und Entschlossenheit für uns selber beten, damit wir dieses Thema nicht wieder vergessen und erst bei der nächsten Katastrophenmeldung wieder daran denken, sondern einen Beitrag dazu leisten, die öffentliche Meinung in dieser Frage nach Kräften zu beeinflussen. Deswegen nennt Paulus ja noch vor den Regierenden alle Menschen als die wichtigste Gruppe, der unser Gebet zu gelten hat.

Wir denken gern an die Geschichten von Jesus, der mit uns im Boot sitzt und den Sturm stillt, oder der uns übers Wasser entgegenkommt. Vielleicht sollten wir heute mehr über diese Frage nachdenken: Derselbe Jesus wird irgendwann vielleicht sagen: Ich saß in einem Flüchtlingsboot und war am Verdursten. Und Eure Leute haben uns in den Tod treiben lassen. Was werden wir dann – nein, nicht dann, sondern heute! – antworten? In Situationen, wo wir zwar nicht selbst auf See, aber in die Vorgänge durchaus verwickelt sind, kann das Gebet ein erster Schritt aus der Lähmung sein, die uns angesichts der komplexen Probleme unserer Welt so schnell befällt.

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