Verliebt in Theorien

Iain McGilchrist berichtet in seinem Buch The Master and His Emissary von einem Experiment, bei dem die Probanden vorhersagen mussten, ob ihnen als nächstes Rot oder Grün gezeigt wird. Sie absolvierten den Test mit mehr oder weniger Erfolg, dann aber wurde ihnen (ohne dass sie es wussten) immer die Farbe gezeigt, die sie genannt hatten – sensationelle hundert Prozent Trefferquote stellten sich ein.

Als man die Teilnehmer danach interviewte, konnte ein großer Teil auch ganz genau erklären, wie es dazu gekommen war. Sie hatten komplizierte Theorien zur Abfolge der Farben und Methodik ihrer makellosen Vorhersage entwickelt. Das Problem war nur: sie waren alle falsch. Es gibt in uns einen starken Drang, zu gewinnen und Recht zu haben. So nützlich dieser hin und wieder ist, so fatal kann er in anderen Situationen sein. Er „rettet“ uns aus Ambivalenz und Unsicherheit, indem er illusionäre und riskante „Gewissheiten“ und eine über-optimistische Selbsteinschätzung produziert und alle Absurditäten, Widersprüche und Gefahren dieses Standpunktes abblendet, also zu Realitätsverlust führt.

So lange sich das auf banale Dinge bezieht, kann es ja ganz lustig sein. Wenn es aber dazu führt, dass wir fatale politische Entscheidungen treffen (oder versäumen, wie bei den internationalen Klimakonferenzen), dass zwanghaft ideologische Systeme entstehen oder krankmachende Dogmen (passende Beispiele darf hier jeder selbst einfügen), dann wird es schon unheimlicher. Man muss also auch bei Theorien und Weltbildern (selbst wenn sie „biblisch“ sind…) dem Rat das Paulus aus 1.Kor 7,29f. folgen, sie zu „haben, als hätte man nicht.“

 

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