Retrocharismatiker

Mitte der 80er Jahre hatte die charismatische Bewegung ihren Zenit erreicht. Damals ahnte das keiner, alle schienen zu glauben, die Kurve würde immer weiter nach oben zeigen und die große Erweckung sei nur eine Frage der Zeit. Doch so weit ich sehe, stagniert die Entwicklung seither, zumindest in den traditionellen Kirchen. Pfingstgemeinden und ihre Verbände wachsen recht moderat weiter, und manches Element charismatischer Spiritualität (Segnung oder Gebet für Kranke mit Handauflegung, „Lobpreislieder“, Gabenorientierung im Gemeindebau, „innere Heilung“) ist zum Allgemeingut geworden, das man heute fast überall antrifft.

Die einst jugendlich-ungestümen Leiterrunden begannen zu ergrauen. Der Brite Gerald Coates schrieb zehn Jahre später etwas provokativ von der „postcharismatischen Depression“. Eine Trotzreaktion blieb aus. Um so spannender fand ich die Beobachtung, wie praktisch eine Generation später an manchen Stellen nun eine Art „Retro-Effekt“ auftritt. Nachdem sich Gruppen und Gemeinden die letzten 20 Jahre an diesem oder jenem Thema oder Projekt versucht hatten, gehen jetzt etliche wieder zurück zum Stil und den Inhalten von damals.

Freilich hat sich die Welt um uns her minimal verändert in dieser Zeit. Ist dieser Retro-Kurs also ein stylisches „Back to the Roots“ wie der Mini und der Cinquecento im Automobilbau, oder schon der Nostalgiezug in Richtung Museum?

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Das unbekannte Selbst

Die folgenden Worte sind – die Wendung erscheint gleich noch einmal – tatsächlich geborgt, aus „Man is not Alone“ von Abraham Heschel. Der Einfachheit halber habe ich sie diesmal übersetzt:

Nur wer von geborgten Worten lebt, glaubt an sein Vermögen, sich auszudrücken. Ein vernünftiger Mensch weiß, dass das Intrinsische, das Allerwesentlichste, nie ausgedrückt werden kann. Das meiste – und oft das Beste – was sich in uns abspielt, ist unser Geheimnis; wir müssen selbst damit fertig werden. (S. 4)

Alles, was wir über unser Selbst wissen, ist das, was es ausdrückt, aber das Selbst kommt nie völlig zum Ausdruck. Was wir sind, können wir gar nicht sagen; was wir werden, können wir nicht fassen. Es ist alles eine kryptische, vielsagende Metapher, die der Verstand vergeblich zu entschlüsseln sucht. Wie der brennende Busch steht das Selbst in Flammen, aber es wird nicht verzehrt. Es trägt mehr mit sich herum als nur Vernunft, es liegt in Wehen mit dem Unsagbaren. Der Mensch ist ein Bild, das irgendetwas bedeutet. Aber was? (S. 46)

Ich bin mit einem Willen ausgestattet, aber der Wille gehört mir nicht; ich bin mit Freiheit ausgestattet, aber diese Freiheit ist dem Willen auferlegt. Das Leben ist etwas, was meinen Leib besucht, eine transzendente Leihgabe; ich habe seinen Wert und Sinn weder geschaffen noch erfasst. Die Essenz dessen, was ich bin, gehört mir nicht. Ich bin, was ich nicht bin. (S. 47f.)

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