Torn (9): Ein neues Dilemma

Der erneute Durchgang durch die Bibel hatte für Justin Lee ergeben: Überall da, wo Homosexualität ausdrücklich erwähnt wurde, wurde sie negativ bewertet. Andererseits war nicht eindeutig klar, dass sich diese ablehnenden Aussagen auch auf verbindliche und liebevolle gleichgeschlechtliche Partnerschaften bezogen. Justin Lee entschloss sich, im fortbestehenden Zweifelsfall lieber weiterhin allein zu bleiben, und die Texte nicht weiter hin und her zu drehen.

Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass er den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte. Die entscheidende Frage war nicht die nach dem Inhalt der einzelnen Textstellen, sondern aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet, die Frage nach (das sind jetzt meine Worte) der Mitte der Schrift. In früheren Streitfragen – ob die Bibel Sklaverei billigt oder Frauen von Gemeindeämtern ausschließt und ob man das Recht oder gar die Pflicht zu zivilem Ungehorsam hat – haben sich Christen durchaus auch über den ausdrücklichen Wortlaut einzelner Schriftstellen hinweggesetzt.

Lee findet den Schlüssel zur biblischen Ethik in Römer 13,8-10, wo Paulus die Liebe als die Erfüllung des ganzen Gesetzes bezeichnet, die bedingungslose, selbstlose, verletzliche Liebe, die den anderen so achtet und ihm so zugewandt ist, dass sie ihm nichts Böses zufügt. Wer aufrichtig liebt, tut automatisch das Richtige. Lee verfolgt den Gedanken durch das Corpus Paulinum und findet ihn immer wieder in unterschiedlichen Facetten: Der Weg der Freiheit liegt zwischen den beiden Polen der Gesetzlichkeit und des Hedonismus oder der Willkür.

Dieselbe Logik liegt auch bei Jesus zugrunde, wenn er sich über das Sabbatgebot hinwegsetzt. Für seine Zeitgenossen war das keine Kleinigkeit, sondern der unmissverständliche Beweis, dass Jesus kein echter Prophet sein konnte, sondern nur ein raffinierter Verführer. Zum Streit in Markus 3,4 merkt Lee an:

Aus der regelkonformen Perspektive ergibt das Argument Jesu keinen Sinn. Aber aus einer liebe-deinen-Nächsten-Persepektive ist der Sinn sonnenklar.

Jesus streitet also mit den Pharisäern gar nicht darum, ob das Verbot, am Sabbat bestimmte Dinge zu tun, in seinem Fall (Heilung, Ährenausraufen) zutrifft, er bestreitet also gar nicht, dass er das Sabbatgebot „bricht“. Stattdessen erklärt er, dass das Gebot „für den Menschen“ da ist, oder, um es mit Paulus zu sagen, um uns zu Christus zu führen, um dort dem Geist des Gesetzes zu begegnen, statt beim Buchstaben stehen zu bleiben.

Und so wie ein Arzt dem Patienten manchmal in einem konkreten Fall rät, den Beipackzettel mit seinen Warnungen und Dosierungsanleitungen zu ignorieren und das verschriebene Medikament anders einzunehmen, so kann der Geist Gottes Menschen in bestimmten Situationen dazu anleiten, den Buchstaben des Gesetzes zu missachten. Ob es tatsächlich Gottes Geist war, der diesen Weg gewiesen hatte, muss sich dann an der Frucht dieses Handelns erweisen.

Zweifellos gab es viele Arten homosexuellen Verhaltens, die von Selbstsucht angetrieben wurden und nicht von Agape-Liebe. Vergehen wie Vergewaltigung, Götzenkult, Prostitution, und der Missbrauch von Kindern sind klare Beispiele für die Resultate selbstsüchtiger, fleischlicher Motivation, die keine Liebe zu Gott und anderen ist.

… Aber angenommen, zwei Menschen lieben sich von ganzem Herzen, und sie wollen einander im Angesicht Gottes versprechen, sich zu lieben, zu ehren, wertzuschätzen; einander selbstlos zu dienen und zu ermutigen; gemeinsam Gott zu dienen; einander treu zu bleiben für den Rest ihres Lebens. Wären sie unterschiedlichen Geschlechts, würden wir das heilig nennen und schön und einen Grund zum Feiern. Aber wenn wir nur eine Sache ändern – das Geschlecht eines der beiden – während immer noch die gleiche Liebe, Selbstlosigkeit und Hingabe da wären, würden viele Christen es plötzlich als Gräuel bezeichnen, dem die Hölle droht.

Als ich Römer 13,8-10 wieder und wieder las, fand ich keinen anderen Weg, diese Sicht der Dinge mit dem in Einklang zu bringen, was Paulus uns über Sünde sagt. Wenn alle Gebote in der Regel zusammengefasst sind, dass wir einander lieben sollen, dann waren homosexuelle Paare entweder die einzige Ausnahme von dieser Regel, und Paulus hatte Unrecht – oder meine Kirche hatte einen schlimmen Fehler gemacht.

Mit Furcht und Zittern betritt Justin Lee Neuland, für das er noch keine Karten hat. Wenn er mit seiner Einschätzung falsch liegt, macht er sich schuldig und verleitet andere zur Sünde. Ein erschreckender Gedanke! Aber was, wenn er umgekehrt Recht und die kirchliche Tradition sich geirrt hatte? Was, wenn sie zahllose Menschen unnötigerweise vor den Kopf gestoßen und ihnen den Weg zum Glauben verbaut hatte? War es dann in Ordnung, einfach den Mund zu halten?

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Der Weg der Zerrissenheit

Barbara Bradley Hagerty fragt in ihrem spannenden Buch Fingerprints of God. What Science is Learning About the Brain and Spiritual Experience nach Gotteserfahrungen, die Menschen schlagartig und nachhaltig verändern. Im Kapitel 4 richtet sie den Blick auf Auslöser für solche Erfahrungen spiritueller Transformation. Ein Element sticht dabei hervor: Zerrissenheit (engl.: brokenness).

Zerrissenheit tritt ein, wenn dich das Leben – in der Gestalt von Sucht, Krebs, Alleinsein, Arbeitslosigkeit oder eines undefinierbaren Elends – zu Boden wirft. Sie geschieht, wenn du ans Ende deiner selbst kommst, wenn die eigenen Mittel erschöpft sind, die eigene Kraft und Widerstandsfähigkeit, mit der augenblicklichen Situation fertig zu werden. Du gibst auf, und in diesem Loslassen entdeckst du eine merkwürdige Ruhe. Es ist der einzige Weg, wie so manche störrische Seele Gott findet.

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Frommer Irrsinn

Wir sind sicher nicht die einzigen, die das betrifft, und es ist nicht das erste Mal, dass es mir auffällt. Da haben wir mit „Gott im Berg“ ein Projekt entwickelt, das gut läuft und auch bei Menschen auf Zuspruch stößt, die sonst kaum in kirchlichen Veranstaltungen auftauchen.

Kaum aber machen die ersten „Erfolgsmeldungen“ die Runde, setzt der fromme Tourismus ein. Diese Woche schrieb eine Gemeinde, sie wollten am Karfreitag mit einem ganzen Bus kommen, grob geschätzte Fahrzeit 45 Minuten einfach. Aber das sind nicht die Leute, für die wir uns die Arbeit machen, sondern es geht uns um unsere Nachbarn, Arbeitskollegen und Mitbürger, die mit dem Fahrrad oder zu Fuß kommen können, Fahrzeit unter 15 Minuten.

Ich habe immer noch nicht begriffen, was für Christen so toll daran ist, die Veranstaltungen anderer Christen zu besuchen, selbst wenn die etwas origineller sein sollten als die eigenen. Da setzt man sich doch besser auf den Hosenboden und denkt sich selbst etwas aus. Wenn ich höre oder lese, dass anderen etwas gelingt, dann freut mich das und spornt mich an, aber ich organisiere doch keine Busreise! Wenn uns (gewiss: liebe und wohlmeinende) Mitchristen den Keller verstopfen, dann haben wir dadurch weniger Zeit und Ruhe für die Menschen, die uns wirklich am Herzen liegen.

Aber vielleicht hat sich das in einer gewissen Szene längst eingebürgert, weil viele Macher von „evangelistischen“ Veranstaltungen etwas zahlenverliebt sind und dabei vorsichtshalber schon gar nicht mehr fragen, wie das Verhältnis von alten Hasen und „Neuen“ überhaupt aussieht. Plakate und Flyer scheinen sogar bevorzugt an Mitchristen aller Art versandt zu werden, ohne zu vermerken, dass die es zwar gerne weitergeben dürfen (oder auch jemanden einladen und begleiten), aber ansonsten tunlichst daheim bleiben sollten und etwas Vernünftiges tun, statt hier zu konsumieren, oder aus Solidarität zu erscheinen, oder was auch immer sonst die Motivation sein mag.

Lässt sich dieser Irrsinn irgendwie abstellen? Wir haben in diesem Jahr einem christlichen Fernsehsender abgesagt, weil wir nicht ohne Grund fürchten, ein Bericht würde sich ungünstig auf die Besucherstruktur auswirken. Zum Glück sind wir dort auf Verständnis gestoßen. Das ist schon mal ein guter Anfang.

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Ungewisse Sicherheit

Wir hatten gestern in Kooperation von Evangelischer Allianz und Evangelischem Dekanat einen guten Abend zur Situation von Flüchtlingen in Erlangen. Im Vorfeld habe ich am Rande eines Deutschkurses für Flüchtlinge mit ein paar Teilnehmern sprechen können. Schon diese kurzen Begegnungen waren eindrücklich: Eine Kurdin aus dem Irak erzählte, dass – noch zu Saddams Zeiten – ein naher Verwandter von „Sicherheits“behörden verschleppt und zu Tode geprügelt wurde (heute droht dort Gefahr eher durch Terroranschläge), ein junger Iraner war mit seiner Familie zum christlichen Glauben konvertiert und musste deshalb fliehen, ein Mann aus Afghanistan verlor Frau und Kind bei einem Bombenanschlag auf einen Bus.

In fast jeder dieser Familien führten die traumatischen Erlebnisse vor und während der Flucht zu psychosomatischen Erkrankungen, die hier wegen der Sprachbarriere oft nicht oder nicht ausreichend behandelt werden. Und die meisten leiden unter dem ungeklärten Status, hier nur geduldet leben zu können, sie müssen also immer mit einer plötzlichen Abschiebung rechnen und können keine Zukunft planen.

Wir zeigten einen Videoclip mit den oben beschriebenen Interviews, dann entspann sich ein lebhaftes Gespräch zwischen den Besucher/innen und den Vertreter/innen der verschiedenen Initiativen, eine Mitarbeiterin der AWO-Flüchlingshilfe erläuterte die staatliche Asylpolitik von Sammelunterkünften, Taschengeld/Lebensmittelpaketen und Bewegungsfreiheit. Am Ende hatten wir uns gemeinsam einen groben Überblick verschafft über bestehende Hilfsangebote und ein paar neue Ideen schwirrten schon durch den Raum.

Freundlich begleitet wurde das Ganze von der Stadt Erlangen, die das ehrenamtliche Engagement unterstützt, während der Vertreter einer Umlandgemeinde die Veranstaltung unter leisem Protest verließ, weil sie ihm zu „politisch“ erschien. Aber dass es kein kulinarischer Abend sein würde, wenn der Titel „Ungewollte Nachbarschaft“ lautet, war ja eigentlich klar.

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Torn (8): Zurück zur Bibel

Der Kulturkampf zweier Lager und Lebenskonzepte, die nach eigener Überzeugung die jeweils andere ausschließen, stellt Justin Lee vor die Frage, auf welche Seite er sich schlägt. Die christliche Subkultur ist ihm bislang jede Antwort auf die Frage, wie er denn nun als (alleinstehender) mit seiner homosexuellen Orientierung leben solle, schuldig geblieben.

Bei seiner Suche in der Bibel beginnt er in Genesis 19, mit dem Untergang Sodoms. Und er stellt fest, dass Homosexualität dort keineswegs als das Hauptproblem oder die Kardinalsünde der Bewohner von Sodom erscheint. Dass diese geschlossen über Lots Gäste herfallen wollen, ist kaum sinnvoll als Folge gleichgeschlechtlichen Begehrens zu verstehen, sondern als ein Akt gewaltsamer Erniedrigung Fremder. Darauf deuten auch die auffälligen Parallelen zu Richter 19 hin. Über auf Liebe und gegenseitige Treue hin angelegte Beziehungen zwischen Partnern gleichen Geschlechts sagt die Geschichte nichts aus.

Ähnlich ist es in Levitikus 18,22. Lee erkennt schnell, dass die gern verwendete Unterscheidung zwischen Kultgesetzen und Moralgesetzen hier nur zu künstlichen und willkürlichen Resultaten führt, weil den Texten selbst ein solcher Unterschied völlig fremd ist. Selbst konservative Exegeten (er zitiert Robert Gagnon) sind hder Auffassung, es gehe bei diesem Verbot um Tempelprostitution. Damit wäre es erstens nachvollziehbar, zweitens aber auf einen Kontext bezogen, der heute kaum anzutreffen ist.

Der große gedankliche Bogen, den Paulus in Römer 1,18-32 schlägt, wirft eine Menge Fragen auf. Zum Beispiel, ob Homosexualität als Strafe Gottes gegenüber Menschen anzusehen ist, die sich von ihm abkehren. Wie aber könnte diese Strafe jemanden treffen, der im Glauben groß geworden war und ihn nie hinter sich gelassen hatte? Von wem spricht Paulus also da in der dritten Person Plural? In den Kommentaren zu dem Abschnitt wird immer wieder auf heidnische Kulte Bezug genommen. Und „Götzendienst“ war der pauschale Grundvorwurf des religiösen Judentums gegenüber der heidnischen Umwelt. Paulus greift diese relativ grobe Polemik, der die meisten Juden ohne Zögern zustimmen würden, in Römer 1 auf, um ihr negatives Urteil über die heidnischen Zeitgenossen in 2,1 dann gegen sie selbst zu wenden – mit demselben Überraschungseffekt, den Nathan gegenüber König David schon erfolgreich eingesetzt hatte.

Beim Verständnis von 1.Kor 6,9-11 hängt dagegen alles an einem in seiner Bedeutung strittigen Wort, dem griechischen Begriff arsenokoitai, der außer in 1.Tim 1,10 nirgends mehr auftaucht. Unter diesen Bedingungen ist seine Bedeutung schwer zu klären. Geht es wieder um Kultprostitution, geht es um die griechische „Knabenliebe“ (ein verheirateter, älterer Mann hält sich einen jugendlichen Liebhaber), oder werden tatsächlich auch Liebesbeziehungen auf Gegenseitigkeit und Augenhöhe, wie es sie heute gibt, damit abgelehnt? Vorschnelle Verallgemeinerungen sind problematisch. Es kommt ja auch niemand auf die Idee, das negative Urteil der Bibel über „Zöllner“ auf unsere heutigen Finanz- und Zollbeamten zu übertragen.

Hätte irgendeiner dieser Schriftstellen irgendetwas zu verantwortlichen und treuen homosexuellen Beziehungen gesagt, pro oder contra, oder über ernsthafte Christen, die sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder von der Notwendigkeit, dass Menschen wie ich allein bleiben, hätte ich das so hingenommen. Aber das taten sie nicht.

Andererseits war zumindest bei dem Begriff arsenokoitai nicht zweifelsfrei klar, dass er sich nicht auch auf homosexuelle Partnerschaften beziehen könnte. Eine Pattsituation: Man konnte es so herum betrachten oder andersherum. Lee fragt sich, ob er den Texten vielleicht voreingenommen begegnet sein könnte und stellt eine doppelte Tendenz bei sich fest: Den Wunsch nach einem Partner und zugleich die Angst, all das in Frage zu stellen, was ihm über die Bibel und Homosexualität beigebracht worden war. Kann man diesen inneren Knoten entwirren?

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Torn (7) Die Bombe im Gepäck

Je länger, je mehr hat Justin Lee den Eindruck, dass seine evangelikalen Mitchristen Fehlinformationen über Homosexualität aufgesessen sind, und dass aufgrund der Fehlinformationen nun wohlmeinende Menschen dazu beitrugen, dass die Fronten, zwischen denen er und andere sich wiederfanden, zunehmend härter und undurchlässiger wurden.

Er beschreibt eine Szene aus einem Actionfilm: Die Protagonisten verfolgen einen Lieferwagen, in dem Terroristen angeblich eine Bombe versteckt haben, quer durch einen belebte Stadt. Als sie den Wagen endlich einholen und nachsehen, stellen sie fest, dass er leer ist. Die Bombe befand sich schon die ganze Zeit in ihrem eigenen Auto, und nun haben sie selbst den Sprengsatz ans Ziel gebracht. Ein Bild für konservative Christen und ihren verbissenen, oft unbarmherzigen Kulturkampf, der viele vor den Kopf stößt:

Der Sauerteig der Fehlinformation über Homosexuelle hat sich in der ganzen Kirche ausgebreitet, und er hat die Kirche nicht nur zum mutmaßlichen Feind der Homosexuellen gemacht, sondern auch zu ihrem eigenen schlimmsten Feind.

Freilich betrifft das nicht alle Christen. Lee räumt ein, dass er den Begriff „Christen“ bis dahin für den Evangelikalismus als wichtigste Kraft im nordamerikanischen Protestantismus verwendet hat (was wiederum auch dem Sprachgebrauch vieler Evangelikaler entspricht). In theologisch liberalen Kreisen hat man als Homosexueller keine Probleme. Der Preis dieser Freiheit aber ist für ihn eine theologische Unverbindlichkeit und Schwammigkeit in ganz zentralen Glaubensfragen, etwa bei der Auferweckung Jesu von den Toten (theoretisch liegt zwischen diesen beiden Polen noch ein weites Feld, das kommt aber an dieser Stelle nicht in den Blick).

Er lernt parallel zu den christlichen Aktivitäten die Schwulen- und Lesbenszene kennen, die sich auch organisiert hat und sich zum Teil aggressiv gegen die „Christen“ positionierte. Dort wird er mit seinen eigenen Hemmungen und Verkrampfungen konfrontiert, der Fremdheit, die er aus seiner evangelikalen Kinderstube mitbringt. Zögernd begleitet er ein lesbisches Paar in eine Szenebar – es wird ein Kulturschock vor allem insofern, als er als braver Southern Baptist das Rauchen, den Alkohol und das Tanzen überhaupt nicht gewohnt und schon allein deshalb alles andere als entspannt war. Andererseits muss er sich dort keiner Avancen oder gar Übergriffe erwehren.

Die Spannung zwischen den beiden Welten, der verinnerlichte Kulturkampf, stürzt Justin Lee schließlich in eine tiefe Krise. Die Lösung findet er nicht in Medikamenten, sondern in dem Entschluss, sich nicht mehr zu fürchten und sich nicht mehr durch die bestehenden Konfrontationen definieren zu lassen. Um die Frage nach seinem weiteren Weg im Leben zu klären, greift er erneut zur Bibel.

(hier geht’s zu Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6)

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Torn (6): Vom braven zum bösen Buben

Die Geborgenheit, die Justin Lee nach seinem Entschluss, Gott bedingungslos zu vertrauen, erlebt, muss sich wenig später in verschiedenen Situationen bewähren. Davon handeln die nächsten beiden Kapitel von Torn. Rescuing the Gospel from the Gays-vs.-Christians Debate.

Justin meldet sich bei einem Pastor seiner Baptistengemeinde zu einem Seelsorgegespräch an. Dort beschreibt es seine Situation: Er ist homosexuell und die Ex-Gay-Geschichte ist nicht sein Fall. Auf die Frage, was er nun tun solle, antwortet sein Gegenüber, so lange er sich auf kein Verhältnis mit einem anderen Mann einlasse, dürfe er gern weiter zum Gottesdienst kommen. Andernfalls freilich nicht. Er wird, so kommt das an, ab sofort lediglich unter Vorbehalt geduldet.

An der Uni sind inzwischen Gerüchte im Umlauf, er sei schwul. Fromme Kommilitonen fangen in scheinbar unverfänglichen Gesprächen plötzlich an, einschlägige Bibelstellen zu zitieren. Trost findet Justin derweil in einer christlichen Online-Community, in der er unter einem Pseudonym angemeldet ist und so einfach ein Christ unter anderen sein kann. Über sein Privatleben teilt er dort nur wenigen Leuten irgendetwas mit. Um so überraschter ist er, als er von einer Sekunde auf die andere ausgeschlossen wird. Irgendwoher wissen die Administratoren, dass er homosexuell ist, und das allein reicht für den sofortigen Rauswurf.

Seine christliche Unigruppe organisiert kurz darauf ein Seminar unter dem Titel: „Homosexualität – Barmherzigkeit und Wahrheit“. Der Hauptreferent ist jemand aus der Ex-Gay-Szene. Er nimmt Kontakt auf und bekommt von dem Experten sinngemäß die Auskunft, er müsse seine sündige Orientierung ändern und es sei seine eigene Schuld, dass er sich zu Männern hingezogen fühle. Er versucht, mit dem Leiter der Unigruppe ins Gespräch zu kommen, um eine weitere Belastung des Verhältnisses zwischen Christen und Homosexuellen abzuwenden, die dann droht, wenn diese Positionen öffentlich und als offizielle Doktrin verkündet würden. Der Leiter interessiert sich weder für Justins Sorgen, noch für seine Lebensgeschichte und nicht für seine Argumente. Stattdessen hält er ihm eine Predigt über das Gräuel der Homosexualität, und Justin Lee weiß: Er ist vom „guten Jungen“ nun endgültig zum Häretiker geworden.

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Dreifaches A und O

Der amerikanische Psychiater Daniel Siegel hat mit „Mindsight“ ein kluges und spannendes Buch über das Zusammenspiel von Geist und Gehirn geschrieben, das sich wohltuend abhebt vom Determinismus mancher Neurobiologen wie auch vom allgegenwärtigen, marktkonformen Optimierungswahn. Wenn wir uns beim Denken beobachten, dann finden wir in kritischen Momenten auch die Freiheit, Kurzschlusshandlungen zu vermeiden und Entscheidungen zu treffen, die nicht nur für uns selbst gut sind, sondern auch für andere.

Drei Begriffe spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle, sie fangen im Englischen alle mit einem „O“ an: Openness, Observation und Objectivity. Es geht also erstens um die Offenheit, sich mit dem zu befassen, was tatsächlich ist (statt mit dem, was sein sollte oder müsste), und zwar so, wie es ist. Zweitens gelingen uns Dinge besser, wenn wir eine gewisse Distanz zu uns selbst und den unwillkürlichen Impulsen finden, die sich als Reaktion auf das einstellen, was wir antreffen – wir stecken den Rahmen der Beobachtung weiter und schließen uns selbst mit ein. Drittens hilft (der Begriff ist freilich missverständlich) Objektivität dabei, die eigenen spontanen Empfindungen zu relativieren: Sie sind vorübergehende Phänomene (morgen könnte es schon anders sein), sie sind nur ein Teilaspekt von uns (ich gehe also in meinem Ärger oder Kummer nicht komplett auf), sie werden der komplexen Situation nicht immer gerecht.

Ganz ähnlich sind die drei deutschen Begriffe, mit denen Maria-Anne Gallen und Hans Neidhardt in Das Enneagramm unserer Beziehungen den „inneren Beobachter“ charakterisieren: Absichtslos statt zweckgerichtet und ergebnisfixiert, akzeptierend statt wertend und beurteilend – aufmerksam statt indifferent, zerstreut und abgestumpft – man kann es auch eine kontemplative Grundhaltung nennen, oder nicht-duales Denken.

Der mögliche Gewinn: Ich kann von der Bühne meines Lebens in den Zuschauerraum wechseln. Und mit dem, was ich von da aus sehe, bin ich nicht mehr nur Darsteller in diesem Stück, sondern ich werde zum Regisseur. So bekommt die Figur auf der Bühne neue Spielräume.

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Aufgeräumte Stimmung!

Manchmal liest man einen Text, fühlt sich spontan verstanden und geht mit neuem Schwung an die Arbeit. Dieser Text von Sabine Hockling hat mich von meinem Gordon-MacDonald-Trauma befreit! Vor über 25 Jahren musste ich (widerwillig, ich gestehe das gern ein, und ich kam auch nie bis zum Ende) Ordering Your Private World von ihm lesen.

Vielleicht würde er das alles nicht mehr so sagen, aber der Typ wirkt ja immer noch so einschüchternd aufgeräumt und diszipliniert. Damals schrieb er, der Schreibtisch sei ein Spiegel des Seelenzustands eines Menschen. Ist er aufgeräumt, dann stimmt’s auch im Innern – und umgekehrt.

Nicht, dass diese Aussage meinen Arbeitsstil verändert hätte, sie hat lediglich die Saat eines latenten Schuldgefühls hinterlassen. Zeit, das endlich abzuschütteln! Für alle Leidensgenossen (und deren Chefs und Mitarbeiter!) – hört die Worte, nehmt Euch diesen Balsam für sie Seele zu Herzen, und gönnt Euch die aufgeräumte Stimmung:

… die Mär vom aufgeräumten Schreibtisch gehört zu den unsinnigen Zeitmanagement-Tipps. Die Schreibtischordnung eines Mitarbeiters sagt nichts über seine Arbeitsqualität aus. Nehmen wir wieder die zwei Gruppen der Beschäftigen: Systematisch-analytische Personen sind strukturiert und beginnen in der Regel keine neue Aufgabe, wenn noch eine unerledigte auf dem Tisch liegt. Sie haben dementsprechend auch nicht unnötige Dinge auf dem Schreibtisch, sondern immer nur Unterlagen des aktuellen Vorgangs. Ist dieser abgeschlossen, ist der Schreibtisch leer.

Die kreativ-chaotischen Beschäftigten hingegen springen zwischen Projekten hin und her, gerade so, wie ihnen Ideen kommen. Die Folge: Auf ihren Schreibtischen liegen in der Regel Unterlagen mehrerer Projekte, aufgeräumt sieht anders aus. Eine Clean-Desk-Policy stresst diese Beschäftigen besonders.

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Fataler Griff zur Flasche

Der Livestream von kirchehochzwei war nicht aktiv, aber auf meiner Suche nach beruflicher Fortbildung wurde ich dann doch noch fündig. Redner aller Art, natürlich auch Prediger, können am folgenden Beispiel wunderbar verfolgen, wie man mit ein paar nervösen Kleinigkeiten die Rede seines Lebens so vermasseln kann, dass der Inhalt völlig egal ist. Und Stephen Colbert zeigt dann, wie es professionell geht. Viel Vergnügen beim Zuschauen:

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Torn (5): Ein schwerer Entschluss

Der besondere Charme dieses Buches liegt darin, dass Justin Lee seine Leser mitnimmt auf einen Weg. Es ist keine abstrakte, trockene und scheinbar emotionslos-objektive Theorie, sondern eine aufrichtige, intensive Suche, die über verschlungene Pfade führt. Man bekommt nicht einfach ein Resultat präsentiert, sondern vollzieht beim Lesen die einzelnen Schritte nach, die dahin führten, und was es den Autor kostete.

Nach seiner Abkehr von der Ex-Gay-Bewegung und der bis dahin verlockenden Vorstellung, er könne „hetero“ werden, sieht Lee sich vor der Entscheidung, seine Homosexualität zu verleugnen oder zu unterdrücken, sich auf eine homosexuelle Beziehung einzulassen, oder allein zu bleiben. Aber das würde nicht nur den Verzicht auf Sex bedeuten, sondern auch auf innige Nähe, auf Anerkennung und ungeteiltes Dasein füreinander. Sogar Paulus, der doch die Ehe mehr als ein Zugeständnis betrachtet hatte, war klar, dass wenige seinem Ideal der Ehelosigkeit gewachsen waren, schreibt Lee und fügt hinzu:

Menschen heiraten nicht, weil sie dann das Recht auf Sex haben; sie heiraten aus Liebe und um der Gelegenheit willen, mit jemand anders ein gemeinsames Leben aufzubauen. Sie heiraten, weil es dann, wenn alles im Leben schief geht und die Probleme am Größten sind, tröstlich ist, wenn man eine Hand halten kann. Weil in der Dunkelheit der Nacht ein Bett sich viel weniger leer anfühlt, wenn da jemand neben dir liegt. (S. 103)

Aber eine echte Alternative scheint nicht in Sicht. Über die Frage, ob denn wenigstens eine nichtsexuelle, romantische Beziehung zu einem Mann erlaubt sei, schweigt sich die Bibel aus. Vielleicht gibt es da ohnehin keinen großen Unterschied? Ist also das zölibatäre Leben der Wille Gottes? Lee schreibt:

Ich habe keine Worte, die beschreiben könnten, wie sehr diese Frage auf mir lastete. Ich wusste, ich könnte mich nicht weiterhin als Christ bezeichnen, wenn ich nicht bereit war, alles hinzunehmen, was Gott für mich geplant hatte, selbst wenn das ein Leben in Einsamkeit bedeutete. Ich wusste auch, ich konnte Gott nicht belügen und so tun, als wäre mir das alles recht, um dann nach einer anderen Lösung zu suchen. Gott kennt dein Herz. Du kannst Gott nicht belügen. … schließlich kam ich zu der unausweichlichen Schlussfolgerung: Ich musste Gott folgen, was auch immer das hieß. (S. 104)

Er spricht das in einem sehr ehrlichen, berührenden Gebet aus und spürt, wie eine Woge des Friedens über ihn kommt.

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Herausfordernde Perspektive auf den Jesus der Evangelien

N.T. Wright habe auf diesem Blog ja in schöner Regelmäßigkeit erwähnt. Mit Jesus und der Sieg Gottes (aus aktuellem Anlass kein Link zu amazon.de) ist sein bislang vielleicht wichtigstes Werk nun im Francke-Verlag auf Deutsch erschienen. Warum es mit der Übersetzung etwas gedauert hat, wird sofort klar, wenn man den stattlichen Band in der Hand hält. Sich nun vom Umfang abschrecken zu lassen, wäre ein sehr bedauerliches Versäumnis. Denn Wrights Untersuchung der Jesusworte und -geschichten aus den ersten drei Evangelien ist im Unterschied zu vielen mehr oder weniger aktuellen und originellen Aufgüssen ein selten mutiger, in sich stimmiger und im Blick auf die Texte ungemein erhellender Neuansatz.

Der Neutestamentler aus St. Andrews greift zurück auf Albert Schweitzer, der vor über 100 Jahren erkannte, dass man entweder den Ansatz konsequenter Kritik gehen kann (und dann in der Sackgasse radikaler Skepsis landet), oder in Rechnung stellen muss, dass Jesus als Jude im ersten Jahrhundert ein ganz anderes Bild Gottes Eingreifen in die Weltgeschichte hatte, als wir heute. Wright gibt Schweitzers These aber eine überraschende Wendung: Während der nämlich noch geglaubt hatte, Jesus habe irrtümlich den Anbruch des Weltendes erwartet, ordnet Wright die Verkündigung vom Reich Gottes in den Horizont der jüdischen Prophetie ein: Nicht das Ende der Geschichte Israels und der Welt, sondern ihr Höhepunkt und die entscheidende Wende stehen bevor. Und Jesus selbst ist die Schlüsselfigur in diesem göttlichen Drama.

Aus dieser Perspektive liest Wright viele Jesusworte, die andere auf „Wiederkunft“ und „Weltende“ gedeutet hatten, als stimmige Beschreibung und Erklärung dessen, was sich durch Jesu Wirken und vor den Augen seiner Nachfolger und Gegner ereignet – mitten in der Geschichte. Aus dem scheinbar weltfremden Gottmenschen traditioneller Auslegungen, der primär mit der Frage befasst zu sein scheint, wie man nach dem Tod „in den Himmel“ kommt, wird in Wrights lebendiger Darstellung ein politischer Messias, der damit rechnet, dass Gott durch sein Wirken und seinen Märtyrertod mitten in der „alten“ Welt der verheißenen neuen Schöpfung die Tür öffnet.

Die 866 Seiten (ohne Anhänge ca. 750) sind eine äußerst anregende und auch für theologisch interessierte Laien gut verständliche Entdeckungsreise, von der man bereichert zurückkehrt, und die knapp 40 Euro kann man kaum besser investieren! Wer 20 Seiten am Tag liest, ist bis Ostern durch!

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Torn (4) – Erfahrungen mit der „Ex-Gay-Bewegung“

Justin Lees Eltern, damit beginnt das sechste Kapitel von „Torn“, nehmen ihn auf eine Konferenz über Homosexualität mit. Dort hört er die im letzten Post kurz beschriebene These, es handele sich um die (prinzipiell therapierbare) Folge einer gestörten Elternbeziehung. Seine Einwände, das treffe unter anderem auch auf seine Lebensgeschichte nicht zu, finden kein Gehör. Am Ende fragt er sich:

Was für ein Dienst nimmt jemanden, der denkt, er hatte ein wunderbares Verhältnis zu seinem Vater, und überzeugt ihn davon, dass es in Wirklichkeit schlecht war? Das fühlte sich für mich immer weniger nach einem Werk Gottes an.

Er begegnet einer merkwürdigen Sprachverwirrung in der Ex-Gay-Szene. „Homosexuell“ wurde nicht (wie allgemein üblich) so verstanden, dass jemand sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlt, sondern als – in der Regel recht exzessiv ausgelebtes – sexuelles Verhalten. Folglich bezeugten etliche eine Veränderung ihres Lebensstils und der Ausstieg aus einer bestimmten kulturellen Szene, aber das bedeutete keineswegs, dass sich damit auch die sexuelle Orientierung verändert hätte. In der Regel war das offenbar nicht der Fall. Dennoch glaubten viele wohlmeinende Christen, dass tausende aus ihrer Homosexualität ausgestiegen seien und es damit auch erwiesen sei, dass ihr Freund oder Angehöriger darauf hoffen dürfe.

Lee erzählt in dem Kapitel unter anderem von seinem Freund „Terry“, der von diesen Versprechen angezogen verschiedene Therapiebemühungen unternahm. Terry war verwitwet, aber schon seine erste Ehe war er in der vergeblichen Hoffnung eingegangen, dass er seine Frau, die ihm eine gute Freundin war, im Laufe der Zeit körperlich anziehend finden würde. Nun riet man ihm zu, es erneut zu versuchen. Terry heiratete wieder, aber die zweite Ehe zerbrach, weil Terrys Empfinden sich nicht änderte. Er wandte sich verbittert über die Augenwischerei von der Kirche ab.

Wo die Wirklichkeit dem Wunschdenken geopfert wird (und man das mit „Glauben“ verwechselt), da wird es schwierig, ehrlich zu bleiben. Lee erinnert an eine Reihe von Skandalen der Ex-Gay-Bewegung: Colin Cook von „Homosexuals Anonymous“, der sich 1982 für geheilt erklärte, aber einem Zeitungsbericht zufolge noch acht Jahre später sexuellen Kontakt hatte zu Leuten, die er begleitete. Michael Busseé und Gary Cooper von Exodus International, die die dürren Erfolge ihrer Arbeit ins denkbar beste Licht zu rücken wussten – und sich dann in einander verliebten. John Paulk, der Vorzeigemann von Exodus International und Focus on the Family wurde von einem Aktivisten in einer Schwulenbar in Washington D.C. erkannt. Inzwischen hat Exodus International deutlich leisere Töne angeschlagen, damit aber auch etliche Mitgliedsverbände verloren.

Traurig bleibt in jedem Fall, dass allzu vollmundige Versprechungen vielen Menschen so viel Leid zugefügt haben, und dass das Versteckspiel offenbar noch nicht zu Ende ist.

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