Wer bin ich schon?

Der moderne Mensch hat eine ganz neue Form der Scham entwickelt, stellte der aus Breslau stammende Philosoph Günther Anders (1902-1992) im März 1942 in Kalifornien fest. Er nannte sie „prometheische Scham“ in Anspielung auf die griechische Sage von Prometheus, der den Göttern das Feuer klaute und es den Menschen gab, die seither feste zündeln. Der erste Technologietransfer der Weltgeschichte, wenn man so will.

Prometheus wird zum Urbild des modernen Menschen, der sich aus religiöser Bevormundung (der Furcht vor und der Abhängigkeit von den Göttern) befreit und die Elemente der Welt wie die Risiken des Lebens durch technischen und zivilisatorischen Fortschritt bändigt. Den Antrieb dazu nennt Anders prometheischen Trotz und Stolz:

Prometheischer Trotz besteht in der Weigerung, irgend etwas, sogar sich selbst, Anderen zu schulden; prometheischer Stolz darin, alles, sogar sich selbst, ausschließlich sich selbst zu verdanken.

Aber im Augenblick des Sieges verwandelt sich dieser in eine Niederlage:

Prometheus hat gewissermaßen zu triumphal gesiegt, so triumphal, daß er nun, konfrontiert mit seinem eigenen Werke, den Stolz, der ihm noch im vorigen Jahrhundert so selbstverständlich gewesen war, abzutun beginnt, um ihn durch das Gefühl eigener Minderwertigkeitund Jämmerlichkeit zu ersetzen. „Wer bin ich schon?’ fragt der Prometheus von heute, der Hofzwerg seines eigenen Maschinenparks, „wer bin ich schon?“

Angesichts einer unübersehbaren Flut von Konsumgütern sind wir ständig damit konfrontiert, was wir alles nicht haben, und angesichts immer perfekterer und leistungsfähiger Geräte steht uns permanent vor Augen, was wir alles nicht so gut können. Schöpfer und Geschöpf tauschen die Rollen, nun wird das Geschöpf (die Maschine) zum Maß ihres Schöpfers (des Menschen). Die Überlegenheit seiner Fabrikate (und die ist im digitalen Zeitalter sicher nicht geringer geworden) erlebt der Mensch als beschämend. Die Scham aber verbirgt er vor sich und anderen.

Etwas Folgenschweres passiert: „Der Mensch desertiert ins Lager seiner Geräte“. Während wir Menschen uns, was die „Hardware“ angeht, in den letzten Jahrhunderten nicht grundlegend verändert haben und unsere Leistungsfähigkeit mit dem Alter wieder abnimmt, werden unsere Geräte immer noch mächtiger.

Die Reaktion des Menschen besteht im „human engineering“, sagt Anders, also in der ständigen Selbstoptimierung. Und die Entwicklung der letzten 70 Jahre hat ihm Recht gegeben. Sah anders noch den Gebrauch von Make-up als Schritt in diese Richtung, so sind heute den Manipulationen unseres körperlichen Erscheinungsbildes kaum noch Grenzen gesetzt und Schönheitsideale haben sich ins Aberwitzige gesteigert. Täglich werden wir bombardiert mit den geschönten Bildern und Geschichten über die (Erfolg-)Reichen und Schönen dieser Welt. Der Vergleich kann nur zu unseren Ungunsten ausfallen, die Frage „wer bin ich schon“ unter den Bedingungen unserer Gesellschaft nur in die Scham führen. Wir schämen uns unserer Leiblichkeit und Kreatürlichkeit, unseres Gewordenseins, weil die gemachten Dinge so viel vollkommener erscheinen, wie Anders nun mit theologischen Verweisen ausführt:

So wenig je von einer Religion die Tatsache, daß der Mensch kein Gott ist, sondern eben nur eine Kreatur, als Freibrief moralischer Indolenz anerkannt worden wäre, so wenig würde heute von der Industriereligion und von deren Anhängern die Tatsache, daß er kein Produkt ist, sondern eben — wiederum — nur eine Kreatur, als Ausrede für faules Beharren in seiner geschöpflichen Unzulänglichkeit akzeptiert werden. Den Versuch, seine Ding-Frömmigkeit zu beweisen, den Versuch einer „imitatio instrumentorum“, den Versuch einer Selbstreform muß er schon unternehmen; mindestens den Minimumversuch, sich so weit zu „bessern“, daß er die versuchte imitatio instrumentorum, die er nun einmal, auf Grund seiner „Erbsünde“: der Geburt, nolens volens treibt, auf das denkbar geringste Maß reduziere.

Heute im Gottesdienst haben wir aus Genesis 1 gelesen. Wahrscheinlich kann man das nicht oft genug tun: Während die babylonischen Götter den Menschen als Arbeitstier und „Roboter“ (das heißt ja so viel wie „Zwangsarbeiter“) schaffen, erklärt ihn der Gott Israels zu seinem Ebenbild. Als endliches und unvollkommenes Geschöpf zu leben, darin liegt die besondere Würde, die auch kein frommer Optimierungswahn vergessen darf. Auf die Frage „wer bin ich schon?“ kann in Wahrheit nur Gott antworten. Und er hat das getan, indem er einer von uns wurde und uns als Bruder Freiheit von prometheischem Stolz und Trotz anbietet.

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