Muss die Kirche mit der Zeit gehen? (4)

Mein letzter Gedanke zu dieser Scheinfrage setzt im Johannesevangelium an. In den Abschiedsreden spricht Jesus über den verheißenen Geist, dessen Aufgabe eine doppelte ist, wie die NGÜ schön herausstellt:

Der Helfer, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, wird euch alles ‚Weitere‘ lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. (14,26)

Gott hat sich im irdischen Weg Jesu offenbart, und doch sind den Jüngern noch längst nicht alle Implikationen dieser Offenbarung bewusst. Sie müssen erst noch entdeckt und „entpackt“ werden, und das geschieht im weiteren Verlauf der Geschichte Gottes mit seinen Nachfolgern, die ihn in der Welt bezeugen (15,27). Daher heißt es etwas später auch:

Doch wenn der ´Helfer` kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch zum vollen Verständnis der Wahrheit führen. Denn was er sagen wird, wird er nicht aus sich selbst heraus sagen; er wird das sagen, was er hört. Und er wird euch die zukünftigen Dinge verkünden. (16,13)

Auch hier zeigt sich schön, dass der Geist sehr wohl „Neues“ bringen wird, wenn er der Gemeinde Gottes Handeln in der Geschichte der Welt erschließt und ihr zu verstehen gibt, was ihre Rolle in diesem Plan ist. Sie wird also zu verschiedenen Zeiten verschieden aussehen können und doch immer noch eine erkennbare Ähnlichkeit mit dem Weg des Messias haben.

Ein Beispiel zum Schluss: In der Kindererziehung haben sich unsere Maßstäbe offensichtlich stark verändert. Statt Pflichtbewusstsein und Gehorsam, der die geltenden Regeln und Tabus nicht hinterfragt, stehen nun Selbstwertgefühl und Selbständigkeit oben auf der Liste der Erziehungsziele, Prügel und psychische Gewalt sind tabu und gesetzlich verboten. Die meisten Christen leben gut damit, auch wenn im Buch der Sprüche solch rustikale Pädagogik empfohlen wird und gelegentlich auch im NT noch positive Anklänge an das Konzept der „Züchtigung“ vorhanden sind, die wir nun – zu Recht! – weicher interpretieren. Freilich gab es im letzten Jahrhundert noch christliche Erziehungsratgeber, die patriarchale Familienstrukturen und physische Gewaltanwendung für unverzichtbar hielten und vor der modernen Pädagogik zu retten versuchten.

Drei oder fünf Jahrzehnte später haben viele Autoren ihre damalige Position zum Glück korrigiert. Aber es war ohne Frage ein Modernisierungsprozess, in dessen Verlauf auch die biblische Tradition neu interpretiert wurde, indem die Kirche mit der Zeit ging. Und der ist auch noch längst nicht abgeschlossen, es tauchen neue Probleme, Ungleichgewichte und Fragestellungen auf, für die neue Lösungen gefunden werden müssen. In der Diskussion über neue Ansätze wird es auch immer wieder die revisionistischen Stimmen geben, die das Rad einfach nur zurückdrehen wollen. Abgesehen davon, dass es nicht funktionieren wird, finde ich diesen Retro-Reflex auch geistlos. Er bereichert weder die Kirche noch die Gesellschaft, zeigt keine neuen Möglichkeiten auf, eröffnet keine neuen Handlungsspielräume. Und er mutet niemandem zu, auf den Geist zu hören.

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