Die Tücken des postmodernen Über-Ich

In den letzten Tagen hat mich ein Aufsatz von Slavoj Žižek beschäftigt, der eigentlich schon etwas älter ist (1999), aber viele Anregungen enthält, die auch 15 Jahre später noch aktuell sind. Ich denke, das ist ein Beweis dafür, wie scharfsinnig Zizek die Welt analysiert. Der Titel – „You May“/“Du darfst“ – spielt direkt auf kalorienreduzierte Lebensmittel deutscher Provenienz an. Im Grunde aber geht es um Freiheit, Normierung, Begehren und Zwang in unserer Gesellschaft.

„You May“ beginnt mit dem Phänomen der „Reflexivierung“ von Gebräuchen in der heutigen Risikogesellschaft. Verhalten, das früher einmal selbstverständlich war, ist heute etwas, für das man sich entscheidet und das man lernen muss, es bedarf also der Reflexion. Zizek zeigt das am Beispiel des Rassismus gegenüber seiner Heimatregion, dem „Balkan“: Es gibt den traditionellen Rassismus mit seinen Vorurteilen und Stereotypen (barbarisch, despotisch, korrupt, un“westlich“…), daneben existiert aber ein politisch korrekter, reflexiver Rassismus (die Gräueltaten zeugen von einem irrationalen und ungebildeten Stammesdenken, das den Anschluss an die – unparteiisch und verwundert zusehende – zivilisierte Welt noch nicht gefunden hat, in der Nationalstaaten ein Phänomen der Vergangenheit sind), und schließlich ist da der umgekehrte Rassismus, etwa der Serben, die sich gegenüber dem weichlichen, blutleeren Westen, den sie verachten, als authentisch, ursprünglich und leidenschaftlich inszenieren.

In der Psychoanalyse ist es inzwischen kaum noch möglich, das Unbewusste eines Menschen durch Interpretation heilsam zu erhellen, weil die Patienten ihre Leidensgeschichte schon im reflexiven Vokabular des Therapeuten schildern und damit bereits über Erklärungen verfügen. Žižek schreibt (und man hört im Geist schon die Ärzte singen):

Es ist so, als würde ein Neonazi-Skinhead, von dem man verlangt, sein Verhalten zu begründen, anfangen, wie ein Sozialarbeiter, Soziologe oder Sozialpsychologe zu reden, als zitiere er die geringe soziale Mobilität, die wachsende Unsicherheit, die Auflösung väterlicher Autorität, den Mangel an Mutterliebe in seiner Kindheit.

Ein postmoderner Neonazi, „der Schwarze verprügelt weiß genau, was er tut, aber er tut es trotzdem“. Die postpolitische, liberal-freizügige Gesellschaft kann den Missbrauch der Menschenrechte nicht verhindern:

Das Recht auf Privatsphäre ist im Endeffekt das Recht, Ehebruch zu begehen, heimlich, ohne dass man bespitzelt oder dass gegen einen ermittelt wird. Das Recht, nach Glück zu streben und Privateigentum zu besitzen, ist im Endeffekt das Recht, zu stehlen (andere auszubeuten). Presse- und Meinungsfreiheit – das Recht zu lügen. Das Recht freier Bürger auf Waffenbesitz – das Recht, zu töten. Das Recht auf Glaubensfreiheit – das Recht, falsche Götter anzubeten. …

Gut, das mit dem Bespitzeln und der Privatsphäre hat sich, wie wir alle wissen, gründlich geändert. Aber nach wie vor gilt Žižeks Beobachtung, dass der Rechtsstaat den Missbrauch der Freiheitsrechte kaum einschränken kann, ohne die Freiheit selbst einzuschränken. Das geschieht inzwischen zwar punktuell, das grundsätzliche Dilemma bleibt jedoch, das es keine absolut gültigen Regeln mehr gibt – und dass diejenigen, die wir noch haben (Menschenrechte), von manchen mutwillig pervertiert werden, während ihre wahren Anhänger keinen Gegendruck erzeugen können, ohne sie zu verraten.

Wenn die öffentliche Ordnung nicht mehr durch „Hierarchie, Repression und strikte Regelungen“ aufrechterhalten wird, kann sie auch nicht mehr durch befreiende Regelbrüche (etwa dem Lachen hinter dem Rücken des Lehrers) verletzt werden. In einer freizügigen Gesellschaft wird dafür die selbstgewählte Unterwerfung zum Tabubruch, was für Žižek auch die Erotisierung von Repression und Sklavenverhältnissen erklärt (was das für theologische Fundamentalismen bedeutet, etwa im Blick auf den sogenannten Komplementarismus und dessen Motivation, eine Hierarchie der Geschlechter zu repristinieren, oder auch autoritäres Führungsverständnis bzw. eine antiquierte, grob gerasterte Dogmatik, wäre noch zu klären: Es könnte vormodern und unreflektiert sein – man kann sich die Welt gar nicht anders denken als so –, oder postmodern und reflexiv – dann wird dieser Glaube zum Vehikel der antiliberalen Grenzüberschreitung).

An dieser Stelle bringt Žižek den Begriff des „Über-Ich“ ins Spiel. Wo Eltern ihr Kind früher dazu verdonnerten, die Großmutter zum Geburtstag zu besuchen, da sagen sie heute: „Du weißt ja, wie gern Deine Großmutter dich sehen möchte. Aber Du solltest natürlich nur hingehen, wenn Du es wirklich möchtest, sonst bleib lieber zuhause.“ Das Kind weiß natürlich, dass es im Grunde keine Wahl hat, nur kann es jetzt nicht mehr gegen den Zwang aufbegehren, der vordergründig keiner mehr ist. In Wirklichkeit lautet die Forderung aber nun: „Du musst die Großmutter besuchen, und Du musst es auch noch gern tun.“ Das Über-Ich befiehlt uns, die Dinge, die wir tun, gefälligst zu genießen. Aus Kants kategorischem Imperativ, der davon ausging, dass ich das Gute tun kann, weil es meine Pflicht ist, wird somit die Pflicht, alles zu tun, was ich kann: Die Verfügbarkeit von Viagra schlägt um in die Erwartung, so viel Sex wie nur möglich zu haben. Unter Esoterikern wird Selbstverwirklichung und das Lebensglück eben deshalb zur Pflicht, der man mit Freuden nachzukommen hat, weil sie machbar ist. In der totalitären Demokratie muss man dem Führer nicht nur gehorchen, mann muss ihn lieben. Es ist nicht genug, seine Arbeit ordentlich zu machen, es muss jetzt auch noch mit totaler Leidenschaft und Begeisterung geschehen. Damit bilden sich neue „Fundamentalismen“, während die alten, autoritären auch noch irgendwie lustvoll und reflexiv gebrochen fortbestehen. Und jetzt kommt der Slogan fettfreier Produkte ins Spiel, denn man kann plötzlich Salami essen, ohne sein Fett abzubekommen:

Nationalistischer Fundamentalismus fungiert als ein kaum noch verschleiertes „Du Darfst“. Unsere postmoderne reflexive Gesellschaft, die so hedonistisch und freizügig scheint, ist in Wirklichkeit gesättigt mit Regeln und Vorschriften, die unserem Wohlergehen dienen sollen (Einschränkung des Rauchens und Essens, Regeln gegen sexuelle Belästigung). Eine leidenschaftliche ethnische Identifikation ist keineswegs eine weitere Einschränkung, sondern ein befreiender Zuruf „Du darfst!“: du darfst (nicht den Dekalog, aber) die starren Vorschriften friedlicher Koexistenz in einer liberalen, toleranten Demokratie verletzen; du darfst essen und trinken, was auch immer du willst, Sachen sagen, die politische Korrektheit verbietet, sogar hassen, [andere] bekämpfen, töten und vergewaltigen.

Diese Fundamentalismen verdanken also ihren Sexappeal ausgerechnet der toleranten Gesellschaft, die sie verachten und auf deren Kosten sie sich als „authentische“, „ungezähmte“ Freiheitskrieger inszenieren. Leute, die sich „den Mund nicht verbieten lassen“, „Klartext reden“ oder wie auch immer das dann heißt.

In seinem jüngsten Beitrag für die Zeit vom 16. April nimmt Žižek viele dieser Motive übrigens wieder auf und wendet sie auf den Rechtspopulismus in Europa an, sein Interesse gilt nun aber den Folgen rechter Tabubrüche. Die richtige Antwort auf derartige Umtriebe wäre aus seiner Sicht, mit Freiheit und Gleichheit in Europa noch viel konsequenter und radikaler Ernst zu machen (sich also, um auf das „du darfst“ zurückzukommen, die subtilen Zwänge des Über-Ich bewusst zu machen), statt dem rechten Druck zur Abschottung und der Rückkehr zu autoritären Ordnungsstrukturen nachzugeben, mit der man den Feinden der Freiheit (die Orbans, Le Pens und wie sie alle heißen) den Grund zur Klage nehmen möchte, in Wahrheit aber ihre Ziele und Methoden legitimiert. Denn wenn die emanzipatorischen Bemühungen aus Angst oder Trägheit eingefroren werden, erhalten die Reaktionäre die Chance, sich als die bessere Revolution auszugeben.

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