Früher war alles besser…

Mit der Industrialisierung, schreibt Richard Sennett in Autorität, wurde die alte Sozialordnung zerstört zugunsten einer neuen. Aber das Alte lebte als Ideal weiter, das zunehmend verklärt wurde, und es war damit nicht weniger wirksam:

Überall sammelte man im 19. Jahrhundert die Bruchstücke des alten Lebens, das der Kapitalismus zerstörte, und hortete sie – Dinge, die höchst verletzlich und darum um so wertvoller waren, zu zart und empfindlich, um den Ansturm des materiellen Fortschritts zu überstehen. So wie man das Dorf als Muster der Lebensgemeinschaft idealisierte, so idealisierte man auch die stabile Familie, in der die Angehörigen der jüngeren Generationen ihre Plätze in der von Sitte und Brauch vorgeschriebenen Reihenfolge einnahmen, und sah in ihr einen Hort der Tugend. Dass diese Familie, sofern es sie gegeben hatte, für ihre jüngeren Mitglieder oft von einer erstickenden Enge gewesen war, wie es Rousseau und Goethe – jeder auf seine Weise – im Jahrhundert davor dargestellt haben, wollte man nicht wahrhaben.

Ganz ähnlich funktioniert das heute immer noch – nun ist es die Verklärung des Familienbildes der 50er Jahre, der intakten Kirchenstrukturen der Nachkriegszeit oder ganz aktuell der Ära der Nationalstaaten, die im Zuge der Globalisierung ihre Bedeutung allmählich verlieren. Der AfD attestierte ein Kommentator letzte Woche denn auch die „Sehnsucht nach einem besseren Früher, das es nie gab“.

Problematisch sind solche Ideale, sagt Sennett, weil sie oft von Personen und Bewegungen aufgegriffen werden, die ganz andere Ziele verfolgen. Im 19. Jahrhundert entstand ein fürsorglicher, paternalistischer Kapitalismus, dessen Vertreter (z.B. George Pullman) nicht nur die Arbeit, sondern auch das Privatleben ihrer Beschäftigten dann nach ihren – keineswegs uneigennützigen – Vorstellungen beeinflussten.

Vielleicht lässt sich ja doch aus der Vergangenheit lernen…?

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