Achtsamkeit oder Apfelbäumchen? Das Zeitgeist-Dilemma

„Die Welt ist mir zu viel – und ich selbst bin mir genug.“ Auf diesen schlichten, treffenden Nenner bringt Julia Friedrichs den aktuellen Zeitgeist-Trend im Zeit-Magazin. Mich haben die Entwicklungen, die sie skizziert, zurück zu einer Art Neo-Biedermeier und möglichst weit weg von der „postmodernen Vielfalt der achtziger Jahre“, an so manche Erfahrung und Begegnung aus den letzen Wochen und Monaten erinnert, zum Beispiel an dieses Bild:

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Bevor sich jemand verfrüht freut, dass die Postmoderne endlich vorbei ist – auch dieser spießige Eskapismus ist natürlich hochgradig „postmodern“. Zu besichtigen ist dieser ambivalente Trend aktuell auf dem Zeitschriftenmarkt:

Die Zeitschrift Landlust – sozusagen das Zentralorgan der Eskapisten – hat in den vergangenen fünf Jahren an Auflage zugelegt wie kein Blatt sonst. Im dritten Quartal 2014 verkauften sich pro Ausgabe 1.011.802 Hefte. Im Vergleich zu 2009 ist das ein Plus von 87,3 Prozent. Auch in Landlust dreht sich alles um Garten, Küche und Natur. Die Sprache ist freundlich, Konflikte gibt es nicht…

… In keinem der Magazine findet sich auch nur ein Spurenelement dessen, was gemeinhin für einen elementaren Teil der Gesellschaft gehalten wird: Politik und Wirtschaft. Auch Konflikte oder Armut tauchen nicht auf, erst recht keine Kriege. Nichts Schwieriges, nichts Unbehagliches, kein Dreck. Die Verkäuferin – hübsch wie ihre Kunden – sagt, fast jede Woche kämen jetzt neue Hefte wie diese auf den Markt, europaweit.

Der Rückzug aus einer chaotischen, instabilen Welt und den grenzenlosen Anforderungen der rastlosen Arbeitswelt nimmt also nicht nur die aggressive Form der Pegida-Demonstranten an, die sich unter „Biodeutschen“ einigeln wollen, sondern auch die sanfte der Achtsamkeitswelle, des Handarbeitsbooms, der unterschiedlichen Techniken zur Entschleunigung. Christliche Entsprechungen zu diesen Bewegungen (und Verlagsprodukten) gibt es mehr als genug, und vielleicht profitieren die Kirchen und Gemeinden von diesem aufkommenden Trend ja auch bald schon, indem sie einen religiösen Flügel der Bewegung aufmachen.

Die Weichen dafür sind zum Teil schon gestellt und die Frage lautet: Werden Christen ihren Glauben noch apolitischer präsentieren, als es oft schon der Fall ist? Werden sie die Renaissance vermeintlich „christlicher Werte“ feiern und verkennen, dass sie im Neo-Biedermeier eben jenem Zeitgeist auf den Leim gehen, vor dem sie so eindringlich gewarnt haben? Wird das (ich finde: etwas weinerliche) „Du bist mein Zufluchtsort“ der Titelsong für eine Generation von Mittel- und Wohlstandsgemeinden, deren Programm darauf abgestellt ist, die ein Familienidyll pflegen und Sehnsüchte nach der heilen Welt bedienen? Wo man nicht in die Kirche geht, um ungelösten Krisen und Konflikten zu begegnen, sondern um tunlichst nicht an sie erinnert zu werden.  (Ebenfalls begünstigt wird diese Mentalität von Angela Merkels Politikstil und umgekehrt: „Mutti“ steht für Kontinuität und Verlässlichkeit und wird das schon irgendwie pragmatisch richten, wenn wir sie schalten und walten lassen.)

Friedrichs betrachtet einige der säkularen Beispiele von Weltflucht und fragt angesichts nachhaltiger Brillen für 800 und veganer Hosen für 300 Euro:

Ist das „Slow“- und „Mindful“-Programm nichts als ein elitäres Projekt? Ich denke an einen Freund, der manchmal böse zischt: „Fuckin’ First World problems.“

Und so bleibt für sie vor allem der Gegensatz stehen. Fast jedenfalls. Am Ende kommt sie auf Luthers angeblichen Satz von Apfelbäumchen zu sprechen. Es wird theologisch.

Was also, wenn sich demonstrieren ließe, dass Achtsamkeit und einfaches Leben, dass ein Rhythmus von Ruhe und Anstrengung, dass die Wiederentdeckung mancher Traditionen (freilich nicht primär der bürgerlichen des 19. Jahrhunderts nach dem Verlust der revolutionären Energien) eine radikale Hinwendung zur Welt fördern kann – einen Aktivismus, der mindestens so nachhaltig und hartnäckig ist, wie die Probleme, unter denen unsere Welt leidet?

Könnten wir das alle bitte ganz praktisch anpacken? Sofort, wenn’s irgendwie geht? Man muss vermutlich kein Prophet sein, um mit Friedrichs festzustellen:

Es wird nicht funktionieren. Das Bedrohliche wird seinen Weg auch in das Leben der Abgeschotteten finden: Die Verzweifelten kommen mit Booten übers Meer, die Panzer formieren sich im Osten, der Wasserspiegel steigt auch an der Nordseeküste. Und wer sich weigert hinzusehen, könnte dereinst selbst zu denen gehören, die in Lumpen auf der Flucht sind.

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