Schlecht über Gott reden

Gläubige Menschen können ja mitunter sehr empfindlich reagieren, wenn schlecht über Gott (und alles, was sie mit ihm verbinden) geredet wird. In einer pluralistischen Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist, kommt das regelmäßig vor, und man muss lernen, mit Spott, Verdrehungen und Anfeindungen zu leben.

Ich findes es, ehrlich gesagt, schwieriger, damit zu leben, wie schlecht viele Gläubige über Gott reden. Nicht, dass sie gehässige Dinge über ihn sagen würden, ganz im Gegenteil. Sie sagen nur das gut Gemeinte so häufig gedankenlos, phantasielos und banal, dass es weh tut – so wie es allen leidlich musikalischen Menschen weh tut, wenn jemand schräg singt, oder wie das Quietschen von Kreide auf der Schultafel schmerzhaft sein kann. Vergangene Woche habe ich mich mit ein paar Menschen unterhalten, die von Gott und vom Reden etwas verstehen, und dabei bemerkt, es geht nicht nur mir so (dass ich gerade wieder mal David Bentley Hart lese, schärft den Kontrast ebenfalls).

Um richtig verstanden zu werden – mir geht es nicht um eine theologische Correctness oder um unnatürliche Gestelztheit im Reden. Mir ist auch bewusst, dass es erhebliche Unterschiede in Bildung, Eloquenz und Sprachgefühl gibt innerhalb der Christenheit. Aber manchmal wünsche ich mir jene Ehrfurcht vor dem Gottesnamen zurück, die darin besteht, ihn “nicht unnütz“ zu gebrauchen und die im Judentum dazu führte, ihn nicht mehr direkt auszusprechen.

Vielleicht ist es das (in diesen Fällen freilich gescheiterte…) Anliegen, von Gott auf „unfrommme“ Art zu reden, in einer Sprache, die auch für Menschen zugänglich ist, die nicht kirchlich sozialisiert wurden, das zu dieser Banalisierung geführt hat, denn sie betrifft viele, die sich irgendwie als „missionarisch“ verstehen. Vielleicht soll es die Alltäglichkeit der Gottesgegenwart unterstreichen, dass sie von einem Kumpel-Gott sprechen, der „überallhin mitgeht“, „immer dabei“ ist und der sich im Bedarfsfall (miese Stimmung, Ratlosigkeit etc.) bereitwillig nützlich macht. Ich glaube, dass die Bibel selbst da, wo sie von Freundschaft zwischen Gott und Menschen spricht, etwas ganz anderes meint als dieses übernatürliche Maskottchen. Das Gerede vom privaten Kumpelgott ist freilich längst nicht mehr unkonventionell oder „authentisch“, es hat einen hohen Grad von Stereotypisierung und Formelhaftigkeit erreicht. Es ist, um es anders zu sagen, zu einer festen Liturgie geronnen.

Der Kumpelgott ist ebenso eine Karikatur des lebendigen Gottes wie es sein Vorgänger, der Polizistengott, war, oder dessen Vorläufer und Verwandter, der National- und Stammesgott, der die Interessen einer bestimmten, klar umrissenen Klientel (z.B. des Abendlands oder der wahren Kirche) vertritt. Der Kumpelgott gibt keine Rätsel auf, er stellt mich im Leben vor keine zusätzlichen Herausforderungen, sondern er hilft mir auf Zuruf bei denen, die das übliche Streben nach Glück schon mit sich bringt.

 

Von mir aus soll jede und jeder im stillen Kämmerlein mit Gott so reden, wie ihr oder ihm der Schnabel gewachsen ist. Aber so, wie es peinlich ist, wenn Paare sich vor anderen mit albernen Kosenamen anreden, auf Kindersprache und -stimmchen umschalten oder andere Dinge tun, die hinter verschlossenen Türen nur ihrem eigenen Geschmack und Vorlieben unterliegen, so ist es auch beim Reden von und mit Gott, zumal in der Öffentlichkeit.

Ich glaube, Gott hat es verdient, dass wir gut von ihm reden. Ich glaube auch, dass der Maßstab für „gut“ nur der sein kann, dass wir alle unser Bestes geben und an die Grenzen unserer jeweiligen sprachlichen und geistigen Möglichkeiten gehen. Ich glaube außerdem, dass die Menschen, vor und zu denen wir mit und über Gott reden, das verdient haben. Und ich hoffe, dass die Spötter und Zyniker in Zukunft weniger Quatsch finden, den sie genüsslich ausschlachten können.

Zugegeben: Solche Überlegungen können zu einer gewissen Befangenheit führen. Wenn ich mir selber kritisch zuhöre und überlege, ob ich das gerade wirklich so sagen will, stockt die Sprache gelegentlich, zeitweise bleibt sie auch ganz weg. Das ist anstrengend, aber es legt sich wieder in ein paar Monaten. Kein Grund also, sich der Mühe zu verweigern. So lange das mit den eigenen Worten noch nicht so recht klappt, lässt sich die Zeit zum Lesen und Zuhören nutzen. Zum Beispiel bei Abraham Heschel, der schrieb:

Die Kraft des Glaubens liegt im Schweigen, und in Worten, die Winterschlaf halten und warten. Der Ausdruck des Glaubens muss als Überschuss aus dem Schweigen hervorkommen, als Frucht gelebten Glaubens und anhaltender Innigkeit. Theologische Bildung muss diese private Seite vertiefen, um eine tägliche Erneuerung des Inneren ringen, die Zutaten religiöser Existenz kultivieren, Ehrfurcht und Verantwortung.

 

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Das Hohelied der Gnade

Dass Barack Obama bei der Trauerfeier für Clementa Pinckney und die anderen Opfer in Charleston „Amazing Grace“ gesungen hat, haben viele mitbekommen. Noch viel wichtiger und in Teilen (vor allem im letzten Drittel) auch ergreifender ist seine Ansprache, in der er von den Gnade Gottes im Leben der Opfer und ihrer Gemeinde, ja der afroamerikanischen Kirche insgesamt spricht, wie er den rassistischen Mord in diese Leidens- und Gnadengeschichte einordnet.

Es lohnt sich zu hören, welche Schlussfolgerungen er daraus zieht, die ernst macht mit der Frage, wie man aus eben jener Gnade heraus gesellschaftliches Leben gestalten und verändern kann – und warum uns das Gedenken an die Verstorbenen dazu verpflichtet.

Danke für den Link zum Video, Simon de Vries!

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Poetisches Urteil

Kaum zu glauben, dass Juristen auch solche Texte schreiben können. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten hat gestern die gleichgeschlechtliche Ehe für verfassungsgemäß erklärt. Richter Anthony Kennedy drückte es so aus:

Kein Bund ist tiefgründiger als die Ehe. Er vereint in sich die höchsten Ideale der Liebe, Treue, Hingabe, Aufopferung und Familie. In dem sie die Ehe eingehen, werden zwei Menschen zu etwas Größerem als zuvor. Wie manche Kläger uns zeigen, verkörpert die Ehe eine Liebe, die so groß ist, dass sie sogar den Tod überdauert. Anzunehmen, dass diese Männer und Frauen die Idee der Ehe nicht respektieren, würde ihnen nicht gerecht. Sie respektieren sie, sie respektieren sie so sehr, dass sie diese Erfüllung für sich selbst wünschen. Ihre Hoffnung ist, dass sie nicht dazu verdammt sind, in Einsamkeit zu leben, ausgeschlossen von einer der ältesten Institutionen der Zivilisation. Sie erbitten sich die gleiche Würde vor dem Gesetz. Die Verfassung garantiert ihnen dieses Recht. So wird es angeordnet.“

(Übersetzung der SZ)

PS: Davon könnten sich manche Theologen auch eine Scheibe abschneiden. Rein sprachlich, natürlich.

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Klingelschildbürger, oder: Moderne ohne Post

Mein Briefkasten ist seit Tagen leer und seit Wochen unterversorgt. Alles nicht so schlimm, es gibt ja email. Gerade eben kam eine vom DHL. Eine Lieferung (seit 10 Tagen unterwegs) konnte mir nicht zugestellt werden, weil ich unter der Adresse, von der aus ich jetzt gerade auch schreibe, „nicht aufgefunden“ werden konnte.

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Wie bitte?

Ein Anruf beim Servicecenter ergab, dass mein Name auf dem Klingelschild stehen muss. Er steht zwar in großen und deutlichen Buchstaben am Fenster direkt neben der Eingangstür steht, aber spielt für die Post keine Rolle, wurde mir erklärt. Na klar: Wo käme man denn auch hin, wenn man mal 50 Zentimeter nach rechts oder links sähe?

Ich habe keine Ahnung, welcher arme Wicht hier eingeflogen wurde, um  für den gierigen Post-Vorstand (3 Milliarden Gewinn im Jahr 2014 waren nicht genug) den Streikbrecher zu spielen, aber hochmotiviert war diese Person nicht. Ein kleiner Vorgeschmack für das, was uns alle erwartet, wenn es den Oberen gelingt, ihr Personal in schlecht bezahlte Servicegesellschaften auszugliedern.

Der Mensch von der Hotline hat den Vorgang so apathisch-achselzuckend kommentiert, dass anzunehmen ist: auch er befindet sich schon in einem gelockerten Verhältnis zu seinem Arbeitgeber. Die Sendung geht jetzt übrigens zurück an den Absender. Vielleicht ist sie ja dann in drei Wochen wieder da.

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Kein‘ feste Burg?

 

Madeleine Delbrêl hat sich zu ihrer Zeit vehement eingesetzt für eine Kirche, die mit der Zeit geht, statt stur auf dem vermeintlich Bewährten zu beharren. Nur im Mitgehen bleibt der Glaube lebendig und Kirche ihrem Auftrag treu. Ein halbes Jahrundert später sind ihre Worte immer noch aktuell:

Es lässt sich leicht feststellen, dass … Milieus entstanden sind, in denen Christen nur unter sich leben. In diesen – regionalen, familiären, beruflichen und freundschaftlichen – Milieus hat das christliche Leben im Lauf der Zeit eine bestimmte Gestalt angenommen und eine bestimmte Mentalität ausgeprägt.

Meist waren dies lebendige Ausdrucksformen des Glaubens. Doch Schritt für Schritt sind daraus veraltete, überholte, um nicht zu sagen: anachronistische Formen geworden. Ein lange Zeit nur unter Christen gelebtes christliches Leben hat zwei Merkmale: Manches liegt darin brach, anderes wird überbetont.

Es ist tatsächlich so, dass in einem Milieu, in dem man als Christen nur unter sich lebt, keine Gelegenheit gibt,  gewisse Glaubenswahrheiten in die Praxis umzusetzen. Und wenn man sie nicht praktiziert, ist man sich ihrer weniger bewusst: man streitet sie nicht ab, aber man vergisst sie.

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Wer Ohren hat, zu hören

Dass Jesus im Zusammenhang mit seinen Gleichnissen davon spricht, dass seine Verkündigung gar nicht darauf angelegt ist, universal verständlich zu sein, sondern dass das Un- und Missverständnis beabsichtigt ist, kann einen schon ziemich irritieren. Vor allem naürlich dann, wenn man voraussetzt, dass Jesu Botschaft sich primär darum dreht, Menschen den Weg zum Seelenheil zu eröffnen. In Matthäus 13,13 steht: „Darum rede ich in Gleichnissen zu ihnen, dass sie sehend nicht sehen und hörend nicht hören und nicht verstehen.“

 

Setzt man hingegen voraus, dass Jesu Predigt vom Reich Gottes auf eine (freilich gewaltlose) Veränderung der Machtverhältnisse in Palästina zielte und damit eine viel umfassendere Vorstellung von „Heil“ im Blick hatte, dann wird dieser merkwürdige Satz auf einmal plausibel. Der Politikwissenschaftler James C. Scott von der Yale University hat sich über Jahrzehnte mit Protestbewegungen im ländlichen Raum beschäftigt. Scott spricht von einer „Politik der Tarnung und Anonymität, die unter den Augen der Öffentlichkeit stattfindet, aber auf einen Doppeldeutigkeit angelegt ist, die die Identität ihrer Akteure schützt. Gerüchte, Tratsch, Volksmärchen, Witze, Lieder, Rituale, Chiffren und Euphemismen“. Jesu Gleichnisse und Rätselworte passen perfekt in dieses Muster: Unter den Augen der Mächtigen spricht er über eine andere soziale Ordnung als die herrschende; und das in einer Form, die sich weitererzählen und verbreiten ließ, aber für die man nicht (oder nicht ohne Weiteres) verhaftet werden konnte.

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Außenseiter

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Über die Jahrhunderte scheinen sich Flüchtlingsschicksale nicht grundlegend geändert zu haben. Diese Zeilen aus dem fünften Jahrhundert v.Chr. sprechen für sich.

Jokaste:  So frag ich dich, was mir zunächst am Herzen liegt: Verbannung aus der Heimat – sag‘, welch großes Leid!

Polyneikes: Das größte; seine Wirklichkeit erreicht kein Wort.

Jokaste: Wie ist das Leben? Was wird dem Verbannten schwer?

Polyneikes: Das Schrecklichste, dass ihm die freie Rede fehlt.

Jokaste: Des Sklaven Los ist, nicht zu sagen, was er denkt.

Polyneikes: Er muss ertragen die Dummheit der Gewaltigen.

Jokaste: Auch das ist traurig, mit den Dummen dumm zu sein.

Aus: Euripides, Die Phönizierinnen

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Die Sprache der Brüderlichkeit und Schönheit

IMG_0087Wenn wir uns der Natur und der Umwelt ohne diese Offenheit für das Staunen und das Wunder nähern, wenn wir in unserer Beziehung zur Welt nicht mehr die Sprache der Brüderlichkeit und der Schönheit sprechen, wird unser Verhalten das des Herrschers, des Konsumenten oder des bloßen Ausbeuters der Ressourcen sein, der unfähig ist, seinen unmittelbaren Interessen eine Grenze zu setzen.

Wenn wir uns hingegen allem, was existiert, innerlich verbunden fühlen, werden Genügsamkeit und Fürsorge von selbst aufkommen.

Papst Franziskus in der Enzyklika Laudato Si

 

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Gott, die Schulden und die Griechen

Christsein als Erlösung aus einer Schuldenkrise – das ist das Paradigma von Erlösung, das die westliche Christenheit seit Anselm von Canterbury pflegt, schrieb der britische Theologe Giles Fraser vor einer Weile im Guardian (danke an Christian Renz für den Tipp!). Menschen haben sich bei Gott verschuldet, ein Ausgleich ist nötig, aber sie können ihn nicht leisten. Erst der blutende und sterbende Christus schafft den Bailout für die Menschen und sorgt dafür, dass die vormals miese Bilanz wieder stimmt. Der Preis ist bezahlt, davon singen vor allem Evangelikale praktisch jeden Sonntag im Gottesdienst, ganz besonders freilich an Karfreitag und Ostern.

Die orthodoxe Kirche hat davon nichts mitbekommen. Sie hat sich 1054 vom Westen getrennt (Anselm erfand seine Satisfaktionstheorie erst 1089). Für die Ostkirche ist Ostern kein Bailout, sondern ein prison breakout, daher ist er mit der Kreuzigung auch nicht abgeschlossen, sondern erst mit der Auferstehung. Christus schafft den Ausbruch aus dem Gefängnis des Todes und nun steht diese Tür allen Menschen offen. Erlösung ist ein Machtkampf und keine Frage der Buchhaltung. Mehr Drama als Deal.

Fraser sieht (so weit ich sehe, ganz zutreffend) in Angela Merkel die Repräsentantin westlicher Erlösung durch schmerzhafte Tilgung der Schulden und in Alexis Tsipras den Vertreter der östlichen Sicht, weil er die Schuldenlast abschütteln will, ohne den von ihr Betroffenen unmenschliche Qualen aufzubürden.

So weit, so schön. Allerdings fragt Fraser zwischendurch rhetorisch, was denn Sünde mit Schulden zu tun habe. Und da würde ich ihm, bei aller gemeinsamen Abneigung gegen das westliche Erlösungsparadigma, widersprechen. Wir finden die Verbindung in den beiden Textvarianten des Vaterunsers: Bei Matthäus wird um den Erlass von Schulden gebetet, während im Lukasevangelium an gleicher Stelle die Vergebung der Sünden erscheint. Und es ist gut vorstellbar, dass die Schulden die ursprünglichere Formulierung sind. Jesus hatte ständig mit Menschen zu tun, für die das ein sehr reales Problem war, daher taucht die Schuldenproblematik in etlichen Gleichnissen auf, wie Richard Horsley detailliert herausgearbeitet hat.

Ein kürzlich erschienener Appell verschiedener Theologen, den das Institut für Theologie und Politik in Münster veröffentlicht hat (danke dafür an Walter Faerber!), nimmt denn auch genau diesen Faden wieder auf, zieht aber eine ganz andere Konsequenz als die Bundesregierung, weil sie Gott nicht in das menschliche Schuldenproblem verwickelt, wie Anselm und seine Nachfolger das taten und tun. Gott beharrt keineswegs auf dem Ausgleich, sondern er verzichtet darauf und widerspricht der gnadenlosen Logik der Kompensation:

Schulden müssen erlassen werden, wenn sie nicht zurückgezahlt werden können und zu Verelendung und Armut führen. Nach der Bibel besteht die Schuld des Menschen vor Gott darin, unbezahlbare Schulden unerbittlich einzutreiben. Gott erlässt dem Menschen die Schuld, die er bei Gott hat, wenn Menschen die Schulden erlassen, die andere bei ihm haben. Die Bibel enthält die jahrtausende alte Weisheit, die sich auch heute in Griechenland bewahrheitet: Unbezahlbare Schulden zerstören das Leben des Schuldners. Die Vaterunser-Bitte “Und vergib uns unsere Schulden” verlangt Verzicht auf die Erfüllung von Gesetzen, die Menschen umbringen. Um des menschlichen Lebens willen, damit also Schuldner leben können, bittet das Vater-unser um Widerstand gegen das Gesetz, dass die Schulden bezahlt werden müssen.

Deutschland hat vom Schuldenerlass nach dem 2. Weltkrieg profitiert, schreiben die Autoren. Nun wäre es an der Zeit, sich zu erinnern und das folgende Jesuswort zu beherzigen:

Wenn ihr denen leiht, von denen ihr es wieder zu erhalten hofft, welchen Dank habt ihr da? Denn auch Sünder leihen Sündern, um das gleiche zurückzuerhalten. … tut Gutes und leihet ohne zurückzuerwarten, und euer Lohn wird groß sein, und ihr werdet Söhne des Höchsten sein … ( Lk 6,34-35)

P.S.: Papst Franziskus thematisiert Schuld und Schulden aktuell in „Laudato Si!“ mit dem Hinweis auf die ökologischen Folgen von Schulden und Ausbeutung der armen Länder:

Die Auslandsverschuldung der armen Länder ist zu einem Kontrollinstrument geworden, das Gleiche gilt aber nicht für die ökologische Schuld. Auf verschiedene Weise versorgen die weniger entwickelten Völker, wo sich die bedeutendsten Reserven der Biosphäre befinden, wei- ter die Entwicklung der reichsten Länder, auf Kosten ihrer eigenen Gegenwart und Zukunft. Der Erdboden der Armen im Süden ist fruchtbar und wenig umweltgeschädigt, doch in den Besitz dieser Güter und Ressourcen zu gelangen, um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen, ist ihnen verwehrt durch ein strukturell perverses System von kommerziellen Beziehungen und Eigentumsverhältnissen.

 

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Hunger nach Wundern oder Wunder nach Hunger?

Die Geschichte von der Speisung der Fünftausend stellt heutige Ausleger vor große Probleme, scheint mir (keine Ahnung, ob die Ausleger selbst das auch merken). Vieles, was dazu gesagt wird, bewegt sich auf den folgenden zwei Ebenen:

Die eher fromme Predigt wird das Wunder betonen, und daraus resultierend die göttliche Allmacht, in der Jesus hier „übernatürlich“ handelt und Unmögliches tut. Sie wird zum Staunen angesichts dieser Allmacht aufrufen und als Anwendung … ok, da wird es dünn: Entweder heißt es dann recht unspezifisch (und damit immer „richtig“, aber seltsam irrelevant, weil die Art dieses Wunders dafür gar keine Rolle spielt): Vertrau, dass Jesus auch in deinem Leben Wunder tut. Oder der Hunger wird spiritualisiert und dann macht Jesus uns eben alle irgendwie innerlich satt und zufrieden mit unserem Leben, und natürlich geschieht das durch sein Wort (der Mensch lebt ja schließlich nicht vom Brot allein…), oder sie wird das wahre Bedürfnis einer jeden Menschenseele darin sehen, Vergebung zu empfangen, die angesichts Gottes unbestechlicher Gerechtigkeit aber eigentlich noch unmöglicher ist und daher ein noch größeres Wunder, das nur Jesus allein tun kann.

Die eher liberale Alternative wird das Wundersame in den Hintergrund rücken (oder gleich komplett bestreiten) und dann vom Teilen reden, sie wird sagen, dass es auf der Erde genug gibt jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier, es ist dann von Solidarität die Rede und wie Jesus ein Zeichen setzt, vom Teilen und davon, dass jeder irgendwie bedürftig ist, oder auch von der Verantwortung, die Jesus seinen Jüngern für ihre Mitmenschen auferlegt, obwohl die sich doch ganz ohnmächtig fühlen. Es ist eben oft „mehr möglich“, als man denkt.

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Tabgha am See Genezareth – hier hat der Tradition nach die Speisung stattgefunden

Aus beiden Richtungen kann man dann über die Stichwortassoziation „Brot“ die Kurve zum Abendmahl kratzen und damit ein bisschen verschleiern, dass man aus dem Text nur das herausgelesen hat, was eh schon jeder wusste: Vergebung und „spiritueller Hunger“, Solidarität und Teilen, irgendwie ist das wichtig und richtig und hat mit Jesus zu tun.

Weitgehend ausgeblendet wird in beiden Fällen der Kontext von Armut und Hunger, der eben nicht der unsere ist. Die Leute hatten ja nicht einfach ihr Picknick vergessen oder die Ladenschlusszeiten ignoriert. Dabei lehrt Jesus ja auch im Vaterunser, um das tägliche Brot zu beten und den Erlass der Schulden, was schon ein klarer Hinweis darauf ist, dass er es mit verarmten und verschuldeten Menschen zu tun hatte, die sich aus gutem Grund um ihren Lebensunterhalt sorgten (und nicht fürchten mussten, beim üppigen Konsum nicht mithalten zu können). Die Knappheit hatte mit der Steuerlast durch Kaiser, Militärgouverneure und die üppigen Ansprüche der Tempelpriesterschaft zu tun. Eine Missernte führte zum Verlust des Saatguts, zu Schulden, in die Verpfändung von Grund und Arbeitskraft, in Armut und Unterernährung, selbst in einem eigentlich so fruchtbaren Gebiet wie in Galiläa. Daher steht am Anfang auch die implizite Kritik an der selbstsüchtigen Aristokratie: Die Menschen sind „wie Schafe ohne Hirten“ (Markus 6,34 vgl. Ezechiel 34).

Ebenso unsichtbar bleibt meistens die anti-imperiale Zuspitzung der Speisung. Ein Kapitel zuvor „versenkt“ Jesus in der Dekapolis eine „Legion“ Dämonen via Schweineherde im See. Eine Legion hatte etwas über 5.000 Soldaten. Jesus speist also nun am galiläischen Ufer eine Legion Menschen, und dazu teilt er sie in Gruppen zu Hundert – da kann man an Zenturien denken, oder an die Abteilungen von 50 und 100 aus Israels Richter- und Königszeit. Nur ist diese Armee der Hungernden unbewaffnet und bekommt von Jesus das, was sie normalerweise an die Besatzer abtreten müssen: Nahrung. Und zwar mehr als genug. Das Ereignis wird als Machttat bezeichnet, weil es tatsächlich die Machtfrage berührt. Jesus stellt, und sei es auch nur für den Moment, eine Anti-Legion der Hungernden auf. Und nachdem diese Legion abgezogen ist, ist mehr Essen übrig, als am Anfang da war (vgl. 2.Könige 4).

Die Frage, die sich für jede Auslegung und Aktualisierung daraus ergibt, ist für mich die: Verliert diese Erzählung nicht jeden Sinn, wenn sie aus diesem Kontext von Armut und Unterdrückung herausgelöst wird, und wenn sie von Menschen erzählt und aktualisiert wird, die dafür kein Verständnis haben, weil sie im Überfluss leben? Im Magnificat heißt es: „Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen.“ Und unmittelbar davor lesen wir: „Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind. Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“

Während ich die letzten Zeilen dieses Blogeintrags schreibe, lese ich, dass heute Nacht ein Brandanschlag auf die Brotvermehrungskirche in Tabgha verübt wurde. Im Mutterkloster der Benediktiner von Tabgha, der Dormitio in Jerusalem, gab es am 26. Mai auch schon eine Brandstiftung. Es scheint ein Zusammenhang mit rechtsextremen Siedlern im Westjordanland zu bestehen.

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Scharfschützen auf Glaubensdächern

Rob Bells neues Buch Mit Dir. Für Dich. Vor Dir. liegt genau da – vor mir. Ich habe schon auf den ersten Seiten, im typischen Rob-Bell-Stil geschrieben, so manche Weisheit gefunden. Zum Beispiel diese fast schon prophetische Aussage:

In puncto Glauben und Nichtglauben sind wir umgeben von Freunden, Nachbarn, Angehörigen, Intellektuellen und religiösen Systemen mit tief verwurzelten Interessen an den althergebrachten Konzepten, die genauso unbeweglich sind wie manche Traditionen und Auffassungen. Sie verhalten sich mitunter wie geistliche Wächter, Scharfschützen auf den Glaubensdächern. Und sind nicht im Entferntesten daran interessiert, strittige Fragen anzugehen.

Wie um zu beweisen, dass Rob Bell (um bei der Schützenmetapher zu bleiben) mit dieser Einschätzung ins Schwarze trifft, erschien dieser Verriss nun vor einigen Tagen. Der Autor, anscheinend unfähig, sich auf andere Sprachspiele als das eigene einzulassen, ist darüber empört, dass im Zusammenhang mit Gott der Begriff „Energie“ fällt. Also stempelt er Bell kurzerhand zum Esoteriker ab, mit dem Christen sich nicht abgeben sollten. Argumente, die über simple Stichwortassoziationen hinausgehen, sind dazu gar nicht nötig. Und da wir schon bei Stichworten sind: Es war immerhin Paulus, der im Zusammenhang mit Gott immer wieder von energeia sprach.

Nun lese ich „meinen“ Bell fröhlich weiter und bin gespannt, mit welchen Bildern und Begriffen er jenen Menschen eine Brücke baut, die nach einem Zugang zu Gott suchen, an dem ihnen die Wächter der reinen Lehre nicht auflauern.

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Bibelbrillen

Zwei Gespräche aus der vergangenen Woche haben mich beschäftigt. In beiden ging es darum, wie und unter welchen Prämissen wir die Bibel lesen. Die ersten Christen waren eine Minderheit, die immer wieder bedroht und verfolgt wurde. In Europa wurde die Kirche mächtig, regierte gut 1.000 Jahre mit und hat heute immer noch beträchtlichen Einfluss (trotz aller Klagen über Mitgliederschwund, „Werteverfall“ oder dass wir „kein christliches Land mehr“ sind).

Folglich wurde die Bibel eher staatstragend aufgefasst und ausgelegt. Diese Wirkungsgeschichte hat sich tief in die westliche Mentalität eingeprägt, auch bei Menschen, die sich gar nicht als Christen verstehen. Folglich ist aus Jesus ein apolitischer Messias geworden, der keine alternative Gesellschaft bringt, sondern dessen Reich etwas komplett jenseitiges ist, und dessen Einlassbedingungen der rechte Glaube und ein moralisches Leben sind. Und das Kreuz stellt staatliche Ordnungen samt der Gewalt, die zu ihrem Erhalt angeblich „nötig“ ist, keineswegs in Frage, sondern es legitimiert sie noch: Auf Feldzeichen, Flaggen und Orden, um nur mal die sichtbaren Formen zu nennen, oder auf Kruzifixen im Klassenzimmer. Für Paulus hingegen war noch völlig klar, dass die Mächtigen der Welt für den Tod Jesu verantwortlich waren und dass Gott ihr Urteil gegen sie selbst wendet. In der alten Kirche durften Christen daher nicht in der Armee sein, weil das die Handlangertruppe war, die Jesus getötet hatte und immer noch Menschen tötete, um das System zu erhalten.

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Eine junge Frau merkte bei anderer Gelegenheit an, es gebe in der Bibel doch viele Aufforderungen, sich den jeweils Regierenden unterzuordnen. Freilich wird vom Handeln der „Großen“ berichtet, oft aber ohne jede positive Wertung. Ich würde das daher auch nicht als Zustimmung betrachten. Mir fielen aber aus dem AT auf Anhieb deutlich mehr Passagen ein, in denen die Mächtigen kritisiert und getadelt werden. Und im Neuen Testament steht jede Form von „Autorität“ in der Kirche (und überhaupt) ohnehin unter dem Vorbehalt aus Markus 10,45, dass sie herrschaftsfrei zu sein hat, dass Titel wie „Vater“ und „Rabbi“ tabu sind (Matthäus 23) und dass äußere Unterschiede keine Rangordnung begründen (Galater 3,28). Stellt man das in Rechnung, dann relativiert sich das Wenige, was etwa Paulus noch über „Unterordnung“ schreibt, schon recht signifikant.

Wenn das so ist, meinte meine Gesprächspartnerin am Ende unseres Gesprächs, dann wirft das ja einige Fragen auf im Blick auf heutige Gemeindearbeit.

Womit sie zweifellos Recht hat.

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Das Kreuz als Störung

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Das Kreuz Jesu erinnert uns an all die Kreuze, die in der Welt immer wieder aufgerichtet werden. Es will die Leidunempfindlichkeit unserer Gesellschaft empfindlich stören. Diese Leidunempfindlichkeit ist wie ein Dämon, der sich auf das menschliche Denken legt und es trübt. Es verschließt uns die Augen vor dem Leid des Mitmenschen. Doch eine leidunempfindliche Gesellschaft ist eine grausame Gesellschaft.

Anselm Grün

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Für einen Perspektivwechsel ist man nie zu alt

Diese Woche hat Tony Campolo, der große alte Vorkämpfer der Linksevangelikalen, eine kurze Erklärung veröffentlicht, in der es um die Akzeptanz Homosexueller in den christlichen Gemeinden geht. Nun war Tony schon immer jemand, der den traditionell konservativen Standpunkt (wenn du dich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlst, bleib enthaltsam) mit maximaler Fairness gegenüber der inklusiven Gegenposition vertrat, was nicht zuletzt daran lag, dass er mit der wunderbaren Peggy verheiratet ist, die das schon immer anders sah. Tony seinerseits war eine Art Brückenbauer, der einen völligen Bruch zwischen den verschiedenen Lagern zu verhindern suchte.

Er war aber wohl auch sehr unsicher im Blick auf seine Position. Nun hat er sie, nach langem und intensivem Ringen, revidiert. Tony gibt keine Gründe an, die in der Diskussion nicht schon vorgekommen wären. Er ist sich auch der Möglichkeit bewusst, dass er sich irren könnte. Den Ausschlag gaben schließlich die Beziehungen zu ganz konkreten Menschen:

I have come to know so many gay Christian couples whose relationships work in much the same way as our own. Our friendships with these couples have helped me understand how important it is for the exclusion and disapproval of their unions by the Christian community to end. We in the Church should actively support such families. Furthermore, we should be doing all we can to reach, comfort and include all those precious children of God who have been wrongly led to believe that they are mistakes or just not good enough for God, simply because they are not straight.

Nach Steve Chalke im vorletzten und Vicky Beeching wie auch dem Ethik-Professor David Gushee im letzten Jahr ist mit Tony Campolo ein weiterer profilierter Evangelikaler zu einer Neubewertung seine Position gekommen. In Deutschland hat dieser Worthaus-Vortrag von Siegfried Zimmer für Diskussionen gesorgt. Für die EKD hat sich der Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm deutlich zu einer inklusiven Auffassung von Ehe bekannt.

Christian Piatt hat den entscheidenden Impuls für diesen Wandel der Auffassungen gestern treffsicher beschrieben:

Ultimately, marriage equality and being both open and affirming of people of all sexual/gender identities and orientations in our larger Christian community are not issues: they are people. They’re human beings, stories, families, relationships, children, struggles and joyful discoveries. They are school lunches, utility bills, career moves, birthdays weddings and funerals. They’re self doubt, a search for meaning, belonging and, often times, a desire to be connected with something bigger and more enduring than ourselves.

They’re like anyone else in these ways, and many more. They are us. All it usually takes is a willingness to sit down, listen, share and change in whatever ways love and compassion may work within us. It worked for Jesus. It worked for Tony. It’s good enough for me. What about you?

Annahme ist dann möglich, wenn ich sehe, wie viel größer die Gemeinsamkeiten sind als die Unterschiede. Doch das funktioniert nur, wenn ich keine Kardinaldifferenz zwischen Homo- und Heterosexuellen behaupte, sondern diesen Unterschied als nur einen von vielen möglichen sehe. Aber denken wir noch ein bisschen weiter:

Mich persönlich hat gestern eine Meldung aus Gambia beschäftigt. Der diktatorisch regierende Präsident Yahya Jamme hat die französische EU-Vertreterin aus Gambia ausgewiesen, weil sie den Umgang mit Homosexuellen kritisierte. Frage: Ist es denn wirklich nur ein dummer Zufall, dass so viele Diktatoren den Hass auf Schwule (es geht ja meistens um Männer…) schüren? Wenn nicht, wo genau liegt die innere Verbindung, der gemeinsame Nenner, der rücksichtslose Macht und rigide Ordnungsideologien bzw. die Ausgrenzung abweichender Orientierungen und Lebenskonzepte verbindet?

Ich unterstelle damit nicht, dass alle Konservativen verkappte Gewaltherrscher sind. Ich frage mich nur, ob da Denkstrukturen vorhanden sind, die auch dazu taugen, derartige Repression zu legitimieren oder die zumindest dafür sorgten, dass sie nicht schon längst entschlossen genug verurteilt und bekämpft wurde. Meine Vermutung: Die Wurzel liegt im Weltbild des Patriarchats (und damit verbunden der Heteronormativität). Ein strikt binäres und komplementäres Geschlechterverhältnis mit dem Mann als „Haupt“, das für Christen mit wenigen Ausnahmen seit der Römerzeit „normal“ war und das noch bei Max Weber als „naturgewachsen“ galt – das entspricht der Rede von der Schöpfungsordnung in manchen Theologien. Ein homosexuelles Paar bedroht nicht nur die traditionelle Vorstellung von Männlichkeit und damit die symbolische Ordnung, sondern auch die von Macht, weil in dieser Welt beides untrennbar zusammengehört.

Hier geht es um Privilegien, die für die Menschen unsichtbar sind, die sie genießen. Wunderbar dargestellt hat dies Susan Cotrell in diesem Blogpost zu einem Statement von Franklin Graham, der ebenso naiv wie zynisch behauptet hatte, Schwarze könnten es doch ganz einfach vermeiden von weißen Polizisten erschossen zu werden, sie müssten einfach immer nur uneingeschränkt allen Befehlen Folge leisten und Respekt vor der Autorität des Beamten zeigen. Graham gelingt es, zumindest vor sich selbst, den offensichtlichen Rassismus der Cops in ein Autoritätsproblem der schwarzen Minderheit umzudefinieren. Erst wenn man sich mit den Unterlegenen identifiziert (indem man sie, wie Cotrell, kennt, achtet und ihnen zuhört), wird die allgegenwärtige Unterdrückung sichtbar.

Tony Campolo hat diesen Schritt getan. Er hat dafür Jahre gebraucht, andere haben ihn noch vor sich. Hoffen wir, dass sein Beispiel Schule macht.

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A Sense of Wonder

Vor anderthalb Jahren sollte ich einen Text darüber schreiben, wie es ist, wenn man auf seinen 50. Geburtstag zugeht. Ich nahm drei Anläufe und stellte schließlich fest, dass ich es nicht sagen konnte, weil ich einfach noch nicht da war. Man kann die eigene Entwicklung nicht gedanklich extrapolieren (um es mal mathematisch zu sagen) und dann zurückschauen wollen.

Hebron

Jetzt aber liegt tatsächlich ein Jahrzehnt hinter mir mit Erfahrungen, die mich verändert haben – mehr als die Dekade zuvor. Wenn ich nachdenke über das Leben und die Welt, über Theologie und Politik, dann fällt mir auf, wie groß der Unterschied ist. Aber auch die Art der Veränderungen war eine andere. Die Beben fanden viel tiefer unter der Oberfläche statt. ich habe in mehr und tiefere Abgründe geblickt als zuvor. Und es war wohl das tränenreichste Jahrzehnt bisher, auch das gehört dazu.

Der 9. Juni ist der Gedenktag des St. Columba von Iona, Patron der Buchbinder und Dichter. Zwei von vielen Gründen, warum mich der große Crimthann nun schon seit Jahren fasziniert. Apropos Poeten: Aus dem Lautsprecher neben mir fragt sich Bruce Cockburn gerade, wo nur die Löwen geblieben sind, und stellt dann fest Some kind of ecstasy got a hold on me

Ecstasy – da war doch was: Die Juden feiern 50 Tage nach dem Passa ein Erntefest. Christen feiern die Ausgießung des Geistes. Das lässt sich vielleicht auch auf ein Menschenleben übertragen: Freudig einsammeln, was gewachsen ist. Dann stellt sich die Begeisterung und das ekstatische Gefühl ganz von selbst ein.

Van the Man gibt meine Stimmung heute gut wieder:

Didn’t I come to bring you a sense of wonder
Didn’t I come to lift your fiery vision bright
Didn’t I come to bring you a sense of wonder in the flame

 

 

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