Die Gemeinschaft der Gleichgesinnten

Am Freitag habe ich einen Blogpost bei emergentDE geschrieben und dort unter Bezug auf Zygmunt Baumans Analysen ein paar Punkte zusammengetragen, warum das Thema „Postmoderne“ nach wie vor hochaktuell ist, und warum sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern dürfte. Wer Lust hat, weiterzulesen, klickt einfach hier (und findet dort noch viele weitere lesenswerte Beiträge!).

Als ich dann in Baumans „Flüchtige Moderne“ weiter blätterte, sprangen mir ein paar Aussagen ins Auge, die sowohl die aktuelle Flüchtlingsdiskussion als auch die Querelen in der evangelikalen Bewegung in ein interessantes Licht rücken, nämlich die Frage von Gemeinschaft und Zugehörigkeit in der Postmoderne. Patriotismus/Nationalismus und Fundamentalismus sind verwandte Denkstrukturen (und nicht selten gehen sie Hand in Hand, etwa wenn sie vor einer „Islamisierung“ warnen).

Den Unterschied zwischen Nationalismus und Patriotismus bezeichnet Bauman als die Differenz zwischen Wirklichkeit und Ideal, die im Wesentlichen eine rhetorische bleibt. Beginnen wir beim ersteren:

Der »Nationalismus« hingegen ähnelt eher der calvinistischen Erlösungsidee oder der augustinischen Vorstellung des freien Willens: Man vertraut wenig auf Entscheidungen – entweder bist du »einer von uns« oder nicht, und wie auch immer, du kannst nichts dagegen tun. Im Epos des Nationalismus ist »Zugehörigkeit« kein Projekt oder Ziel, sondern Schicksal. Dieses tritt entweder in der heute etwas aus der Mode gekommenen rassistischen Variante als biologische Vererbung auf oder in der derzeit beliebteren Version des »kulturellen Erbes« – aber in beiden Fällen sind die Dinge schon seit ewigen Zeiten, wie sie sind, und dem einzelnen bleibt lediglich die Wahl zwischen der vollen Hingabe an sein Schicksal oder der Rolle des gegen sein Schicksal rebellierenden Verräters. (S. 206f.)

In seinem Herkunftsland Polen dürfte Bauman mit solchen Thesen kaum noch ins Fernsehen kommen. Im Blick auf den Patriotismus beschreibt Bauman den Unterschied so:

Der Nationalismus verrammelt die Tür, montiert die Klinke ab und schaltet die Klingel aus, und nur die, die drinnen sind, haben das Recht, sich dort aufzuhalten. Der Patriotismus ist da zumindest an der Oberfläche toleranter, zuvorkommender und gastfreundlicher – wer um Einlass bittet, darf sich darum bemühen. Dennoch läuft es im Endeffekt oft auf dasselbe Ergebnis hinaus. Weder das nationalistische noch das patriotische Glaubensbekenntnis sehen die Möglichkeit, dass Menschen zusammengehören und dennoch an ihren Unterschieden festhalten. (S. 208)

Für beide Richtungen – und das lässt sich eben auch auf Theologie und Kirche anwenden – ist die Einheit „nicht das Ergebnis, sondern das Apriori eines gemeinsamen Lebens“. Auch für den theologischen Fundamentalisten ist die Einheit in der wortwörtlich zu verstehenden Bibel vorgegeben, und sie duldet weder Variationen noch Adaptionen (die es gleichwohl gibt, man nimmt sie aber nicht zur Kenntnis). Also gibt es nur die Alternative von Verrat oder Verteidigung dieser Einheit. Bauman beobachtet:

Der Impuls, sich aus den risikobeladenen Komplexitäten in die geschützte Sphäre der Einheitlichkeit zurückzuziehen, ist allgegenwärtig. […]

Die Zukunft gehört Inselgruppen, die sich entlang den Kommunkationsachsen aufreihen. […]

Der Traum von der »Gemeinschaft der Gleichartigen« ist im Grunde eine Projektion des amour de soi.

Island with a house by Tambako the Jaguar, on Flickr
Island with a house“ (CC BY-ND 2.0) by  Tambako the Jaguar

 

In der spätmodernen Welt, in der man gar nicht anders kann, als eine Wahl zu treffen und so über die eigene Identität zu entscheiden, dreht sich alles um Identitätsmanagement. Und das besteht oft in einer Vermeidungsstrategie, meint Bauman,

… als Versuch, Fragen aus dem Weg zu gehen, für die es keine guten Antworten gibt, ob etwa das eigene verängstigte Selbst überhaupt liebenswert und ob es als Vorbild für die Umgestaltung der Umgebung und als Maßstab für die eigene Identität geeignet sei. In einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten werden solche unangenehmen Fragen – hoffentlich – vermieden, und damit steht die über das Reinigungsritual erworbene Sicherheit nie wirklich auf dem Prüfstand.

Ob das nun die „Lügenpresse“ und die „Altparteien“ oder die angeblichen EKD-Irrlehren sind, der Mechanismus ist derselbe. Die aktuelle Kontroverse (eher Blockbildung als Spaltung) innerhalb der Evangelischen Allianz wurde ja dadurch ausgelöst, dass die schon recht fortgeschrittene innere Pluralisierung des Evangelikalismus öffentlich wurde und damit dieselbe Grundsituation der Unentscheidbarkeit eintrat, die in den Großkirchen und der Gesamtgesellschaft immer wieder Unbehagen auslöst.

Bauman geht es freilich mehr um das politische, weniger um das kirchenpolitische Ringen um Identität, Gemeinschaft und Einheit.  Man fühlt sich unwillkürlich an das »Wir sind das Volk« der Dresdner Pegida-Demos erinnert, wenn er schreibt:

es liegt nahe, dass sich die Schwächeren zusammentun, um ihre individuelle Ohnmacht durch Masse zu kompensieren. Je nach Größe des Abgrunds, der sich zwischen dem »Individuum de iure« und den Möglichkeiten, zum »Individuum de facto« zu werden, auftut, ergeben sich unter den Bedingungen einer hochgradig fluiden Umwelt verschiedene Überlebensstrategien. Das »Wir« ist heutzutage – so Richard Sennett – »Ausdruck und Akt des Selbstschutzes. Die Sehnsucht nach Gemeinschaft hat etwas Defensives […]. Immer und überall wird dieses ‚Wir‘ als Verteidigung gegen Verwirrung und Vertreibung genutzt.«

Und die Moral von der Geschicht‘? Natürlich beruht jede Form des Miteinanders auf Gemeinsamkeiten, und natürlich gibt es manchmal Gegensätze, sie ein Miteinander unmöglich machen. Kooperationen, Netzwerke und Zusammenschlüsse sind vor allem dann ein Gewinn, wenn sie nicht diesen defensiven Charakter annehmen und der Unterdrückung von Differenz dienen und einen Nutzen über sich hinaus schaffen. Und ob das gelingt, das müssen die anderen entscheiden, nicht die Gruppe selbst.

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Allianzgebetswoche 2016: Jesus, zwei Brüder und die Spaltung

„Ein Mensch hatte zwei Söhne“. So kurz und unspektakulär fiel der Predigttext zum Auftakt der Allianz-Gebetswoche dieses Jahr aus. Und lenkte damit meinen Blick auf ein paar Zusammenhänge, die das fast schon abgedroschene Gleichnis von verlorenen Sohn in einem neuen Licht erscheinen lassen.

Jesus erzählt hier nämlich keine neue Geschichte, und auch keine erfundene Geschichte, sondern er erzählt alte Geschichten neu. Es gibt ja schon eine biblische Geschichte von zwei Brüdern, von denen der jüngere in die Fremde zieht und dort ausgebeutet wird, bis er irgendwann reumütig zurückkehrt und überraschend freundlich aufgenommen wird. Es ist die Geschichte von Jakob, dem Stammvater Israels, und seinem Bruder Esau.

Aber damit nicht genug. Dass hier nicht „ein Vater“ sondern „ein Mensch“ steht, kann man als Hinweis auf die biblische Urgeschichte lesen. Adam – der Mensch – hat zwei Söhne: Kain und Abel. Der Ältere denkt, dass ihm der Jüngere vorgezogen wird, aus gekränktem Stolz wird Zorn, Hass und Gewalt, der Bruder wird zum Feind, und schließlich wird Kain verstoßen und zieht in die Fremde.

Jesus spricht in diesem Gleichnis von Israel. Israel ist Gottes Sohn, aber er benimmt sich nicht wie ein Sohn und verlässt seinen Vater. In Jeremia 2,13f heißt es: “Denn mein Volk hat doppeltes Unrecht verübt: Mich hat es verlassen, den Quell des lebendigen Wassers, um sich Zisternen zu graben, Zisternen mit Rissen, die das Wasser nicht halten. Ist Israel denn ein Knecht oder ein im Haus geborener Sklave?“ Und etwas später sagt der Prophet: „Wie ihr mich verlassen und fremden Göttern in eurem Land gedient habt, so müsst ihr Fremden dienen in einem Land, das euch nicht gehört.“ Niemand anders als Israel ist der Sohn, der den Vater verlässt, und deshalb in der Fremde und in der Knechtschaft landet.

Die Erwartung zur Zeit Jesu war, dass die verheißene Erlösung aus der Knechtschaft und die Rückkehr aus der Fremde wenn überhaupt, dann bestenfalls unvollständig eingetreten war. Wenn Jesus vom Kommen des Reiches Gottes spricht, dann spricht er diese Erwartung an. Und sein Ruf „kehrt um“ kann im Hebräischen auch „kehrt zurück“ heißen. Wenn sein Reich anbricht, dann sammelt Gott sein Volk und stellt es wieder her.

Jesus beschreibt in diesem Gleichnis, wie sich unter dem Eindruck seiner Verkündigung eine Spaltung vollzieht: Die einen gehen dankbar und freudig überrascht auf seine Einladung ein (wohl wissend, dass sie nichts vorzuweisen haben), die anderen sehen ihre privilegierte Stellung in Gefahr, weil Jesus in ihren Augen die falschen Leute einlädt und die Einladung an falsche oder unzureichende Bedingungen knüpft. Jesus ist also der nachgiebige Vater, der seinem zerlumpten Sohn entgegenrennt und auf jede autoritäre Pose und jedes tadelnde Wort pfeift.

Der Vater hat sich entschieden, das Fest ist schon im Gang. Am Ende der Geschichte steht eine offene Frage an den älteren Sohn: Kommt er doch noch zum Fest oder bleibt er draußen, weil ihm die Gästeliste nicht passt?

Das Schöne an Gleichnissen ist, dass man durch sie den eigenen Lebenskontext betrachten kann. Wir Deutsche befinden uns in einer Situation, in der statt des Vaters „Mutti“ sich bittere Klagen anhören muss, weil sie zu viele und viel zu fremde Menschen an unseren reich gedeckten Tisch eingeladen hat. Auch da hat sich im vergangenen Jahr eine tiefe Spaltung offenbart.

Spaltung ist auch das Stichwort im Blick auf die Evangelische Allianz selber. Symbolisiert wird das durch zwei „Brüder“: Michael Diener, der in einem Interview mit der „Welt“ sagte, er achte und betrachte auch diejenigen als Brüder und Schwestern, die seine (konservative) Position im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht teilen. Und (tatsächlich der Ältere…) Ulrich Parzany, der sich nur denen verbunden fühlt und über den Weg traut, die sich von denselben Leuten distanzieren und fern halten wie er selbst.

Aktueller könnte die Textbasis dieser Gebetswoche doch gar nicht sein!

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Über die Sinne ins Herz

Die Jahreslosung für 2016 – „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ – schlägt in eine Kerbe, die mich schon ein Weilchen beschäftigt. Ich komme gleich drauf, muss zuerst aber ein Missverständnis anschneiden: Dass Gott selbst dann, wenn wir ihn „Vater“ nennen, damit nicht als männlich im menschlichen Sinne qualifiziert ist ) weil „männlich“ in der Umgangssprache als „nicht weiblich“ verstanden wird), das hat sich zum Glück ja schon ziemlich weit herumgesprochen. Bei Gott schließt die „männliche Seite“ seine „weibliche Seite“ (wenn man von ihm so überhaupt reden möchte) also nicht aus, sondern ein.

Aber die Bibel bezeichnet Gott nirgends als Mann (und ebensowenig als Frau), und Begriffe wie „Vater“ und „Mutter“ beschreiben daher nicht in erster Linie das Geschlecht (weder biologisch, noch sozial), sondern die Beziehung, die Gott zu uns hat und die Rolle, die er für uns spielt. Wer meint, Gott auf das reduzieren zu müssen, was er/sie für maskulin hält, ist damit in seiner Gotteserfahrung schwer eingeschränkt.

MOTHERS LOVE by VinothChandar, on Flickr
MOTHERS LOVE“ (CC BY 2.0) by VinothChandar
Wenn dieses Hindernis nun aus dem Weg ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Mutter eigentlich tröstet. Das ist das wirklich interessante an Jesaja 66,13. Nicht, dass Väter nicht trösten könnten. Dennoch suchen die meisten Kinder (und viele Erwachsene) instinktiv die Nähe der Mutter. Das liegt nicht nur daran, dass in vielen Situationen die Mütter viel mehr Zeit mit den Kindern verbringen als die Väter. Denn die Beziehung vom Kind zur Mutter ist von Anfang an sinnlicher als das Verhältnis zum Vater.

Mütter können nämlich nicht nur Hunger stillen, sondern auch Kummer – und das weit über das Säuglingsstadium hinaus. Wenn ein Kind sich verletzt hat und zu seiner Mutter läuft, dann ist es mehr der Klang der Stimme als der Informationsgehalt ihrer Worte, der tröstet; es ist die Umarmung, der Geruch, das Wiegen und Streicheln, das Geborgenheit vermittelt und an die Ur-Geborgenheit erinnert. Das bekommt selbst der empathischste Vater nicht ohne Weiteres hin. Kinder haben ein anderes Zeitgefühl als Erwachsene. Ihnen zu sagen, dass der Schmerz irgendwann schon wieder nachlässt, ist relativ sinnlos.

Da, wo nicht nur Männer und Väter, sondern auch alle anderen Frauen um das rechte Wort verlegen sind, braucht die Mutter keine Worte, um zu trösten. Sie putzt dem Kind die Nase, küsst die tränenverschmierte Wange, setzt es auf ihren Schoß, verbindet das lädierte Knie oder den Schnitt im Finger, sie findet den verlorenen Schnuller oder sie hat etwas Warmes oder Süßes zur Hand, an dem man herumnuckeln und mit dem man den Kummer herunterschlucken oder -spülen kann.

Gott tröstet den resignierten und deprimierten Elia, indem er ihm etwas zu Essen schickt. Im Angesicht der Feinde – wenn mir zu Recht angst und bange wird – deckt er mir den Tisch und schenkt mir voll ein, sagt der 23. Psalm. Und im Neuen Testament macht Jesus, der große Berührer und Gastgeber, Platz für den Tröster: Gottes Geist, der keineswegs nur im Reden und im Wort gegenwärtig ist, sondern unseren Leib von innen heraus erfüllt und berührt. Das ist ein bisschen so, als würden wir den beruhigenden Herzschlag Gottes spüren. Schließlich berührt er uns auch durch andere Menschen, die uns anstelle und im Namen des irdischen Jesus nahe kommen.

Die reinen Worttheologen sind 2016 gegenüber den Mystikern schwer im Hintertreffen. Wenn ich an meine dunkelsten Stunden denke, dann waren es nicht primär Worte, sondern Gottes hautnahe, oft wortlose Gegenwart, die mir am meisten geholfen hat. Diese Stille ist keine Leere oder Abwesenheit. Und sie ist eine ungemein sinnliche Erfahrung. Ich vermute mal, damit bin ich nicht allein.

Die Dixie Chicks haben dafür die passenden Worte gefunden:

I come to find a refuge in the
Easy silence that you make for me
It’s okay when there’s nothing more to say to me
And the peaceful quiet you create for me
And the way you keep the world at bay for me

Wir alle werden 2016 Trost brauchen, aus unterschiedlichsten Gründen. Dann ist es gut, sich daran zu erinnern: Gottes Trost erreicht er das Herz über die Sinne. Und er stillt unseren Kummer.

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