Ein bitterer Abschied

Es war ein grauer, kalter Nachmittag an der Hackerbrücke. Auf dem Bussteig Nr. 18 standen sie, klein und eng zusammen, neben den vier schweren Koffern und ein paar Taschen Handgepäck, die ihre sämtlichen Habseligkeiten enthielten. Bis der Bus nach Skopje fuhr, hatten sie noch sechs Stunden auszuharren, um dann 22 Stunden im Bus zu sitzen. „Müssen immer Gott vertrauen“, diesen Satz wiederholten sie oft und neben der Hoffnung schwang auch ein gewisser Fatalismus mit. Sie lächelten und bedankten sich zum Abschied, trugen mir Grüße auf an Familien und Freunde, aber die Verzweiflung stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

Sie hatte sich über Wochen hinweg eingegraben. Familie M. war im Herbst aus Mazedonien gekommen. Vor ein paar Wochen dann machte die Nachricht die Runde, dass Bekannte mitten in der Nacht und ohne jegliche Vorwarnung von Polizisten aus dem Schlaf gerissen und abgeschoben wurden, ohne sich von irgendjemandem verabschieden zu können. Florian Neumann vom ZDF bezeichnete das jüngst als Rückführung-Roulette. Verängstigt und eingeschüchtert haben sie dann auch sofort unterschrieben, dass sie unverzüglich und freiwillig ausreisen, als klar wurde, dass ihr Asylantrag abgelehnt wird. Ich glaube, das hat sogar die Sachbearbeiterin beim Ausländeramt überrascht. Und selbst dann schliefen die beiden Söhne lieber bei Freunden und Bekannten, um nicht doch noch plötzlich verhaftet zu werden.

Und viele von uns, die von ihren Sorgen und Ängsten wussten, schliefen auch schlecht.

In der Familie M. sprechen inzwischen alle genug Deutsch, um in Alltagsdingen zurecht zu kommen, ihre Muttersprache ist Türkisch, der Vater kann auch Albanisch und Serbokroatisch (sagt man das heute noch?). Einer der beiden Söhne ist kleinwüchsig und die mazedonische Gesellschaft ist im Umgang mit Handicaps aller Art im Vergleich zu uns noch ein paar Generationen zurück, dort ist er ein Außenseiter ohne Perspektive. Hier hatte er einen Ausbildungsvertrag in Aussicht, der ihm eine menschenwürdige Existenz ermöglicht hätte, und seine Mutter hätte die psychotherapeutische Behandlung fortsetzen können, die sie eigentlich dringend braucht, um emotional wieder richtig auf die Beine zu kommen.

In Mazedonien stehen sie erst einmal vor dem Nichts. Das Haus der Familie ist unbewohnbar, es gibt in der Region, aus der sie stammen, kaum Arbeit – die Arbeitslosenquote für das gesamte Land lag 2014 bei 34%, bei Jugendlichen ist sie deutlich höher, und nachdem Griechenland als der größte Investor geführt wird, dürfte sich daran in den letzten anderthalb Jahren wenig verbessert haben.

Auf Zeit Online habe ich diese Woche „Aleks ist weg“ gelesen. Es geht um eine Roma-Familie die in Ostfriesland als Vorzeige-Beispiel für Integration galt und dennoch abgeschoben wurde. Die Autorin schreibt:

Politiker reden dieser Tage viel von Abschiebungen: Menschen ohne Bleibeperspektive sollen Platz machen für Kriegsflüchtlinge. Über die, die das betrifft, reden alle immer weniger. Denn der Druck von rechts, die Flüchtlingszahlen zu begrenzen, steigt. Und eine Diskussion über eine Obergrenze lässt keinen Platz für Einzelschicksale.

Und ein Helfer aus Ditzum sagt: „Menschlich ist das nicht in Ordnung“. Zu derselben frustrierenden Schlussfolgerung kommt eine Frau aus dem hiesigen Helferkreis: Auch wenn das alles legal ist, ist es kein Ruhmesblatt für unsere Gesellschaft. Und ich denke mir: Wenn wir die einzelnen Schicksale und Potenziale von Menschen nicht mehr sehen (egal ob In- oder Ausländer!), dann verspielen wir etwas Wesentliches unserer Kultur, nämlich die Wertschätzung des Individuums.

Während ich das schreibe, dürfte sich der Bus schon irgendwo in Serbien befinden. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie vielen der Mitreisenden in diesem Bus genauso elend zu Mute ist.

Nachtrag: Wer möchte, kann diese Petition zur Aufhebung der „Balkanlager“ in Bayern unterzeichnen, die dasselbe Anliegen verfolgt, nämlich die Einzelschicksale ernsthaft zu prüfen.

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