„Postfaktische“ Beziehungen

Irgendwann in diesem Sommer, der noch nicht so recht enden will, hatte ich ein Gespräch über eine bekannte Persönlichkeit des kirchlichen Lebens. Jemand berichtete von einer Begebenheit aus früheren Jahren, in der es um die Tatkraft und den Mut zu neuen Wegen ging.

Ich sagte, das klingt ganz anders als das, was man so allgemein hört über die Person. Hat er/sie sich so verändert? Keineswegs, meinte mein Gesprächspartner. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung und (mehr noch) in der kirchlichen Gerüchteküche verselbständigen sich solche Klischees, und dann kann auch ein zugänglicher, bescheidener und humorvoller Mensch plötzlich steif und verbissen wirken: Jemand stellt eine Behauptung auf, andere erzählen sie weiter, am Ende kann niemand mehr sagen, woher das kam, aber alle meinen zu wissen, dass es selbstverständlich so ist. Der/die Betroffene hat eigentlich keine Chance, das jemals zu widerlegen. Auch deshalb, weil viele schon voreingenommen in die Begegnung gehen und nur noch das bestätigt sehen, was sie schon „wussten“.

Hier und da habe ich das selbst schon erlebt. Das ist gut so, weil ich die Ohnmacht gegen das Gerede nachempfinden kann. Und weil es mich dankbarer dafür macht, wo mir Menschen offen und unvoreingenommen begegnet sind, oder wo es gelungen ist, solche Klischees und Schablonen zu überwinden.

Das Gespräch im Sommer hat mich wacher und neugieriger gemacht im Blick auf solche Begegnungen. Und noch etwas vorsichtiger dabei, in den Chor der ungeprüften, dafür aber stark empfundenen Projektionen, Verzerrungen und Halbwahrheiten einzustimmen. Denn eben dieser Trend nimmt ja kräftig zu und droht, die Politik und damit unser ganzes Gemeinwesen ins Chaos zu stürzen. Vor kurzem hat Eduard Käser in der NZZ unser postfaktisches Zeitalter als „Nichtwissenwollengesellschaft“ bezeichnet, in der es um die „Bewirtschaftung von Launen“ geht und wo „Dogmatiker, Demagogen und Dummschwätzer“ die Meinungsbildung dominieren, weil es einfach zu anstrengend und unsicher ist, weil ein langwieriger Erkenntnisprozess vielen einfach zu anstrengend ist.

Im Kleinen können wir das alle tun: Uns die Mühe machen und anderen die Ehre erweisen, genau hinzusehen, mit Augenmaß zu urteilen und offen zu bleiben für ein besseres Verstehen.

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