Von Schönheit und Endlichkeit

Der Apfelbaum vor meinem Fenster hat über die letzte Woche die meisten seiner Blätter verloren. Der farbenfrohe Herbst geht erkennbar seinem Ende entgegen. Es wird täglich etwas dunkler, und irgendwie konfrontiert mich das mit meiner eigenen Endlichkeit. Wer bin ich, was kann ich ausrichten, und was hat bleibenden Wert im Leben? Paulus schrieb dazu vor fast 2.000 Jahren:

Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. (Römer 14,7-9)

In der Süddeutschen Zeitung schrieb Heribert Prantl dieser Tage:

Früher wurden die Uhren angehalten, wenn einer starb Und heute? Werden die Toten oft anonym und billig beigesetzt. Und die Lebenden beschweren sich, wenn sie sich für eine Beerdigung freinehmen müssen.

Keiner stirbt sich selber – lässt sich das heute noch uneingeschränkt sagen? Und müsste man vielleicht gleich hinzufügen: Weil eben viele sich selber leben, ändert auch der Tod nichts mehr daran? Großfamilien und Dorfgemeinschaften sind selten geworden, Nachbarschaften vielfach anonym und kaum einer arbeitet noch so lange im gleichen Unternehmen, dass die Kollegen 20 Jahre nach der Pensionierung noch Kontakt haben und zur Trauerfeier erscheinen.

Viele trifft dabei gar keine Schuld, sie sind weder beziehungsgestört noch anderweitig schwierig. Eher handelt es sich um eine beständige Erosion von Beziehungen, ein Verdunsten von Zugehörigkeit, ein Ausdünnen von Zusammenhalt. Vielleicht wird ja auch deswegen der letzte Rest gefühlter Zugehörigkeit zur Nation so überhöht, zur so künstlichen wie kümmerlichen „Leitkultur“ aus Christkind mit Goldlocken (als Zugpferd für den dazugehörigen Markt), aus „O du Fröhliche“, ein bisschen Goethe und Helene Fischer.

Das ist, wie ein Freund kürzlich sagte, eine „schwache Identität“. Um so erbitterter und verzweifelter wird sie behauptet. Eine schwache Identität liegt auch dort vor, wo die Alten Jüngere um ihre Jugend beneiden und die Jungen die Alten verachten, weil sie beide – Junge wie Alte – das Alter nur als einen großen Defekt wahrnehmen.

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Im Gegensatz dazu können wir das, wovon Paulus hier schreibt, als „starke Identität“ verstehen. Das Maß aller Dinge ist nicht die Nation, die Kultur, Jugend und Fitness, oder dass alles so bleibt, wie es war. Das Maß aller Dinge ist Jesus Christus und seine Gegenwart in unserem Leben. Ein Leben, das nur ein Gestern, ein Morgen und dazwischen ein dünnes Jetzt kennt, ist trostlos, sagte Romano Guardini einmal. Der Strom der Zeit schiebt mich voran wie ein Gletscher das Geröll mitschleift. Denn wenn Jesus mir nahe kommt, verändert das auch meine Gegenwart. Angesichts seiner Nähe sehe ich mich selbst in einem größeren Zusammenhang. Der Horizont wird weiter, das Leben gewinnt an Tiefe. Es gibt mehr als nur vorn und hinten. Manches Unbedeutende wird aus dieser neuen Perspektive bedeutend, und manches, was einmal wichtig erschien, verliert an Bedeutung.

Indem Paulus vom Leben und vom Sterben spricht, macht er schon deutlich, dass er weiß, nichts wird so bleiben, wie es ist. Das Sterben gehört zum Leben dazu und es kündigt sich im Laufe eines Menschenlebens immer wieder einmal an: Manchmal mit einem Paukenschlag, in einer niederschmetternden Diagnose, oder wenn ich um Haaresbreite einer tödlichen Gefahr entgehe. Manchmal ganz zart und leise, in einem Abschied, im Vergessen, im Nachlassen der Kräfte, in Momenten der Einsamkeit, in der Begegnung mit meinen zerbrechlichen Seiten oder der Zerbrechlichkeit anderer.

Wir brauchen uns also gar nicht künstlich daran erinnern, dass nichts bleibt wie es ist und dass wir sterblich sind. Es reicht völlig, dass wir die gelegentlichen Hinweise darauf zur Kenntnis – und uns zu Herzen nehmen. Denn der Blick auf unsere Endlichkeit kann uns auch daran erinnern: Wenn wir das Leben bewusst leben, kann sich darin auch etwas vollenden und zu etwas Bleibendem werden. Noch einmal Guardini:

Alter … bedeutet nicht nur das Ausrinnen einer Quelle, der nichts mehr nachströmt; oder das Erschlaffen einer Form, die vorher stark und gespannt war; sondern es ist selbst Leben, von eigener Art und eigenem Wert. […] »Voll-Enden« heißt wohl, zu Ende bringen, aber so, dass darin das sich erfüllt, worum es geht. So ist der Tod nicht das Nullwerden, sondern der Endwert des Lebens – etwas, das unsere Zeit vergessen hat.

Das prägt eine andere Identität: Meine Persönlichkeit, was mich ausmacht, wer ich bin, kann ich mir vorstellen wie ein Portrait. Auf diesem Bild ist mein Charakter ablesbar. Das, was gleich bleibt an mir: Lebensgewohnheiten, Verhaltensmuster, Denkweisen, Temperament, mein Mittelpunkt und mein stabiler Kern. Und hoffentlich auch, wie Gott mich gedacht hat.

Aber so ein Bild ist immer eine eingefrorene Momentaufnahme. Deswegen, fährt Guardini fort, können wir uns uns selbst, unsere Persönlichkeit, unser Leben auch wie eine Melodie vorstellen. Ein Ton folgt auf den nächsten, ein Takt auf den anderen. Die Harmonien wechseln, etwa von Dur nach Moll und zurück, und erst am Ende wird klar, ob der Schlussakkord fröhlich ist oder düster, beschwingt oder ruhig.

Vielleicht lässt sich das so weiterdenken: Wenn ich „des Herrn“ bin, wenn ich Christus gehöre, wenn ich aus dieser Beziehung heraus mein Leben führe und gestalte, dann bekommt diese Melodie eine Begleitung. Paulus beschreibt sie mit ein paar kurzen Hinweisen: Christus ist gestorben und wieder lebendig geworden. Und er kehrt damit die Reihenfolge um, in der er unser Leben beschreibt: Statt erst vom Leben und dann vom Sterben zu sprechen, redet er nun erst vom Tod und dann von der Auferstehung. Denn es ist kraft seiner Auferstehung, dass Jesus „eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht“ – so heißt es ganz am Anfang des Römerbriefs. Er ist das Maß aller Dinge – der wahre Herr dieser Welt und meines Lebens.

Während also mein Leben auf ein Ende zuläuft, das hoffentlich Vollendung und Erfüllung bedeutet und nicht nur Zerfall oder Leerwerden, kommt mir in Christus das Leben der neuen Welt entgegen. Es erreicht mich wie eine Symphonie, die leise und tief mit einem einzelnen pulsierenden Herzschlag beginnt, dann aber immer bewegter und vielstimmiger wird, bis auch ich nicht mehr ungerührt zuhören kann, sondern im Takt wippe und klopfe, bis ich Luft hole und die Stimmbänder anspanne, den Mund öffne und mit meiner ganz eigenen Melodie einstimme.

Dieses zu-Christus-Gehören macht eine „starke Identität“ möglich, nämlich einen anderen, versöhnten Umgang mit meiner Endlichkeit: Wer endlich sein kann, der kann auch endlich sein. Vor ein paar Wochen bekam ich die Aufgabe gestellt, auf einen nahen Friedhof zu gehen und mir dort zu überlegen, wie mein Grabstein einmal aussehen sollte. Ich saß dort eine Weile in der Sonne, dann fielen mir ein paar Zeilen des großen kanadischen Liedermachers Leonard Cohen ein. Cohen ist im September 82 Jahre alt geworden. Ein Lied aus dem Jahr 1984 hat er wiederholt als sein bestes bezeichnet. Er war ungefähr so alt wie ich jetzt, als er die ebenso schlichten wie wunderschönen Worte schrieb:

If it be your will
That I speak no more
And my voice be still
As it was before
I will speak no more
I shall abide until
I am spoken for
If it be your will
[…]

If it be your will
If there is a choice
Let the rivers fill
Let the hills rejoice
Let your mercy spill
On all these burning hearts in hell
If it be your will
To make us well

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