Musik, Mannachips und ein Toast auf den Messias

Die Weihnachtsgeschichte lässt sich aus den unterschiedlichsten Perspektiven betrachten und erzählen. Die weihnachtliche Lesung aus dem 2. Samuel 7 bringt zum Beispiel König David ins Spiel. Ich fragte mich beim Lesen: Wie hätte David wohl die Geburt Jesu von Nazareth erlebt? Was wäre ihm dabei durch den Kopf gegangen, wenn er hätte zuschauen dürfen?

(Vielleicht hat er ja tatsächlich…?)

Ich stelle mir das ungefähr so vor: Irgendwo in den himmlischen Wohnungen geht ein Engel den Flur entlang, klopft an einer Tür, wartet eine Weile und öffnet sie dann vorsichtig. Aus dem Zimmer hören wir laute Musik – sie erinnert verdächtig an Leonhard Cohens berühmtes „Hallelujah“ –, die mitten im Lied abbricht. „Ja, bitte, was gibt’s?“ fragt eine Stimme.

„Ich sollte doch Bescheid sagen, David, wenn es so weit ist“, sagt der Engel. „Der Countdown läuft bereits, in ein paar Minuten geht es los. Die Live-Übertragung hat schon begonnen. Der Allmächtige hat Dir einen Platz in auf der Kommandobrücke freigehalten. Stell deine Harfe in die Ecke und komm mit.“

„Augenblick, Metatron“, sagt David, „ich muss nur schnell noch diesen magischen Akkord notieren, dann bin ich so weit.“ „Beeil dich“, sagt der Engel, „Was du gleich siehst, reicht garantiert für mindestens hundertfünfzig neue Psalmen!“ Und wenige Augenblicke später eilen der Engel und David den Flur entlang Richtung Kommandobrücke, die ein bisschen wie Raumschiff Enterprise aussieht. Dort angekommen, nehmen sie auf zwei Sesseln Platz, und Metatron sagt: „Bild auf Schirm eins, bitte!“

Ein großer Bildschirm leuchtet auf und von oben sieht man das Tote Meer, den See Genezareth, Jordantal, Hügelland und Sinai-Halbinsel. „Ihr habt die Sessel erneuert, seit ich das letzte Mal da war“, sagt David. „Ist ja auch schon eine Weile her“, antwortet Metatron. „Stimmt,“ sagt David, „ich konnte lange nicht mehr hinsehen. Es war einfach zu deprimierend. Mach mal das Bild größer, ich erkenne noch gar nichts.“

„Kommt schon“, sagt Metatron. „Jetzt kannst Du schon einzelne Hügel und Ortschaften erkennen. Das große oben am Bildrand ist Jerusalem.“ „Ach Jerusalem. Wenn ich gewusst hätte, wie schnell meine Nachfolger das herunterwirtschaften und wie die Babylonier schließlich alles platt machen, dann hätte ich mir nicht so viel Mühe gegeben mit dem Bauen.“

Metatron antwortet: „Inzwischen sieht es wieder recht imposant aus.“ „Ja“, sagt David, „aber das war doch alles dieser Gauner Herodes. Am kaiserlichen Hof in Rom gibt er das Schoßhündchen, das Augustus (der hält sich übrigens für einen Gott, wusstest du das?) aus der Hand frisst, und bei seinen eigenen Leuten ist er als übler Schlächter verschrien. Das einzige, was er wirklich kann, ist Geld für seine Protzbauten auf den Kopf zu hauen. Das mag ich mir nicht anschauen. Irgendwann baut er noch einen Turm, der an den Wolken kratzt und schreibt seinen Namen in goldenen Buchstaben drauf. Aber sag mal, was ist der andere Ort da unten, der jetzt näher kommt?“

„Das ist Bethlehem“, sagt Metatron. „Bethlehem!“ seufzt David. „Lange habe ich es nicht mehr gesehen. Groß ist es geworden! Und jetzt erkenne ich auch die Hügel wieder. Da, hinter diesem Olivenhain, habe ich immer unsere Schafe gehütet. Eine schöne Zeit war das! Das ganze Leben war noch so gemächlich. Abends hatte ich Zeit zum Harfe spielen, ich musste keine Lageberichte lesen, Steuerlisten erstellen, Ernennungsurkunden unterschreiben – dieser ganze Verwaltungskram kann einem das Königsein ja wirklich vermiesen. Und guck mal, da stehen ja immer noch Schafe. Ganz wie früher. Seh’ ich das richtig: Brennt da ein Feuer, und ein paar Hirten sitzen daneben?“

In diesem Moment geht die Türe auf. Mose und Elija kommen herein. Mose stellt eine Schale mit Manna-Chips auf den Tisch und Elija eine Flasche Wein vom Berg Karmel. „Oh, Hirten und Schafe!“ sagt Mose, als sein Blick auf den Bildschirm fällt. „Meine besten Erinnerungen. Nicht halb so anstrengend, wie später die Israeliten 40 Jahre durch die Wüste zu scheuchen. Aber wer sind die anderen Leute da im Bild?“

Metatron erklärt: „Er heißt Joseph, sie Maria. Sie suchen gerade noch ein Nachtlager. Es eilt ein bisschen, sie ist nämlich hochschwanger.“ Und David fügt stolz hinzu: „Wir sind übrigens verwandt! Joseph stammt aus meiner Familie, also ist auch das Kind, das bald zur Welt kommt, mein Nachkomme.“

„Na endlich, David“, sagt Elija. „Mit deinen Erben lief es ja nicht immer rund. Und was musste ich mich rumärgern mit Königen in Israel. Ein Friedefürst war gewiss nicht darunter. Dafür haufenweise Windbeutel: geldgierig, arrogant und nachtragend. Und das soll jetzt alles besser werden?“

„Allerdings,“ gibt David zurück, „das hat Nathan ja damals schon prophezeit: Einer kommt, der die Krone wirklich verdient hat. Und der behält sie dann auch.“

Elia schaut etwas verwundert: „Apropos Krone: sehr vornehm schauen die zwei ja nicht aus…“

Metatron hält dagegen: „Na gut, aber David war’s ja auch nicht, bis Samuel ihn fand.“ „Genau,“ sagt David, „und zwar bei den Schafen, da unten.

Mose runzelt die Stirn und zeigt auf das Bild: Jungs, wer sorgt denn nun für die Sicherheit da unten? Ich meine ja nur. Als Kind wäre ich fast umgebracht worden. So etwas vergisst man nicht!“

„Wissen wir doch, Mose. Aber die Kollegen vom SEK sind gleich vor Ort“, beruhigt ihn Metatron, und Elija fragt: „S-E-K? Wofür steht das bitteschön?“

„Singendes Engel-Kommando“, antwortet Metatron. David will wissen, ob die Engel eines von seinen Liedern singen, Der Herr ist mein Hirte würde doch gut passen. Aber Metatron meint, sie wurden gebeten, etwas Neues zu schreiben für diesen besonderen Anlass.

Elija stellt fest, dass das Bild nun schlechter ist, weil es allmählich Nacht wird in Bethlehem. Mose greift zu seinem Stab und teilt das Bild mit einer energischen Bewegung. In der linken Hälfte erscheinen Maria und Joseph jetzt groß und deutlich. Mose kommentiert: „Endlich haben sie einen geschützten Ort gefunden. Was ist das – eine Höhle? Oder eher ein Stall? Müssen sie sich verstecken? Vor den Ägyptern vielleicht?“

„Die Ägypter sind keine Gefahr mehr,“ meint Metatron, „aber Herodes hat überall seine Soldaten. Und der steckt mit den Römern unter einer Decke.“

David kratzt sich fragend am Kopf: „Wohnt denn Joseph nicht in Bethlehem?“ Und als er hört, eine Volkszählung des Kaisers habe die beiden hergebracht, wird er noch nachdenklicher. Er sagt: „In meinem ganzen Leben war Gott nie so zornig über mich wie damals, als ich eine Volkszählung ansetzte. Denn wer so etwas tut, braucht Geld oder Soldaten oder beides. Der Kaiser wird sich noch wünschen, er hätte das bleiben lassen.“

Während David noch in Gedanken versunken ist, ruft Mose plötzlich laut: „Hey, da drüben bei den Hirten blitzt und blinkt der Himmel!“ Ein Engel erklärt, das sei das SEK, angeführt von Metatrons Bruder. Der sei früher in der Abteilung für Polarlichter gewesen. Metatron seufzt: „Leider trägt er gern etwas dick auf. Seht, jetzt muss er den Hirten schon wieder sagen, dass sie sich nicht fürchten sollen.“

David spitzt die Ohren: „Wie schön sie singen! Klingt doch fast wie eines von meinen Liedern, oder? Diese himmlischen Stimmen sind umwerfend gut. Plötzlich zweifelt man nicht mehr, dass Frieden auf die Erde kommt, wenn man so einen Gesang hört.“

Mose unterbricht ihn: „Seid mal still. Ich höre da noch ein anderes Geräusch…“

Tatsächlich, irgendwo schreit ein Baby.

Elija sieht es als erster: „Maria – Sie hat das Baby gerade bekommen, schaut nur! Jetzt wickelt sie es in ein warmes Tuch und hält es fest im Arm. Klein schaut er aus, unser Befreier.“

Mose findet: „Naja, wer hätte das von mir gedacht, als mein Körbchen im Nil schwamm, dass ich dem Pharao die Stirn biete? Und hätte deine Mutter beim Windeln wechseln davon geträumt, dass du einmal König Ahab samt Anhang in Bedrängnis bringen würdest, Elija? Gott fängt doch immer klein an.“

David wischt sich eine Träne der Rührung aus dem Auge. „Jungs, jetzt bin ich doch ein bisschen stolz. Ein Spross aus meiner Familie, bei meinen Leuten in meiner Stadt.“ Und Metatron antwortet: „Da kannst du wirklich stolz sein. Wusstest Du eigentlich, dass Maria auch singt und Lieder schreibt? Neulich habe ich ein Protestlied von ihr gehört, in dem sie davon rappt, dass Gott die Welt auf den Kopf stellt – Reiche gehen pleite und Großmäulern verschlägt es die Sprache. Der Song hat es auf Anhieb in die himmlischen Top Twenty geschafft. Singen jetzt alle hier.“

„Sie wird mir immer sympathischer“, findet David. „Am Ende kommt ja doch noch etwas Gutes aus meiner abgedrehten Sippe.“

Ein Engel erklärt Metatron, die Hirten seien auf dem Weg zu dem Neugeborenen und das SEK wolle dort noch einmal auftreten. Man habe ja schließlich lange geprobt für heute. Lieber kein Spektakel. Aber Metatron findet, der Kleine und seine Eltern brauchen Ruhe. Die Hirten sollten auch deshalb allein gehen, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden. Es könne sonst zu gefährlich für ihn und die Familie werden…

Elija nickt sagt mit ernster Miene: „Tja, so ein Friedefürst lebt gefährlich unter all den Kriegsherren da unten. Besser, wenn sie noch nicht ahnen, was da auf sie zukommt. Er sieht aber auch wirklich sehr friedlich aus. (Flüstert) Ich glaube, jetzt ist er eingeschlafen.“

Mose lächelt: „Wenn er größer ist, gehen wir ihn mal besuchen, Elija. Am besten treffen wir uns auf einem hohen Berg. Mit Bergen kennen wir beide uns ja aus. Wie wäre der Tabor, der liegt ganz nahe bei Nazareth?“

„Machen wir“, antwortet Elija. „Apropos Berg, lass uns anstoßen mit dem Wein vom Karmel.“ Alle Versammelten erheben ihre Gläser: „Auf den Befreier! Auf den Sohn Davids!“


* * *


Zurück zu uns. Weihnachten, das heißt:

Gott schlägt ein neues Kapitel auf in der Geschichte der Welt.

Wie immer beginnt er klein. Winzig klein.

Wie immer sucht er Menschen, die sich auf ihn einlassen: Maria und Joseph, ein paar Hirten, drei Fremde.

Aber mit dem ersten Fuß, der er auf diese Erde setzt, wird auch deutlich, was neu ist: Die Geburt des verletzlichen Messias markiert den Anfang vom Ende der Gewaltherrscher.

„Das Wort wurde Fleisch und zog in die Nachbarschaft“, weiß der Evangelist Johannes. Gott riskiert alles, daher wird er auch nicht locker lassen, bis er sich durchgesetzt hat. Jetzt gibt es für ihn kein Zurück mehr. Was an Weihnachten geschehen ist, lässt sich nicht mehr aus der Welt schaffen.

Christus, so schreibt es Paulus später, ist das „Ja“ auf alle Verheißungen Gottes. Und ganz oben auf dieser langen Liste von Gottes Zusagen stehen, so singen es die Engel den Hirten auf dem Feld zu, Frieden und Gerechtigkeit für die Menschen seines Wohlgefallens, „große Freude“ für „alles Volk“. Zugleich ist er Gottes „Nein“ zu Hass, Verrat, Verleumdung, Misstrauen, Gewalt und Gleichgültigkeit unter Menschen.

Ganz egal, wie sehr sich der Welthorizont 2016 verdunkelt hat – wir feiern heute die Ankunft des Lichtes und erinnern uns daran: Das große „Ja“ ist gesprochen. Es gilt – immer noch, immer wieder, und ganz besonders allen, die sich in diesen Tagen klein und verletzlich fühlen.

Fröhliche Weihnachten!

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Weihnachten, Tragik und der Tod Gottes

Im Advent habe ich Terry Eagletons Culture and the Death of God wieder aus dem Regal gezogen und das Kapitel über den Tod Gottes gelesen. Eagleton beginnt mit Schopenhauer, den Nietzsche als den ersten echten Atheisten bezeichnete, weil er Gott nicht einfach nur hinter Begriffen wie Geist, Vernunft, Kultur, Nation, Humanität versteckt, die ihrerseits Absoluta darstellen. Eagleton hingegen erkennt in dem düsteren „Willen“ bei Schopenhauer doch wieder eine Art Parodie Gottes. Schopenhauer kann das metaphysische Denken nicht so recht abschütteln: Bei aller Sinnlosigkeit, die er konstatiert, gibt der Wille diesem Anblick stets eine gewisse Kohärenz. Eagleton witzelt: „Es ist bemerkenswert, wie formal kohärent die völlige Nichtigkeit noch erscheinen kann.“

Nietzsche selbst hingegen hatte verstanden, dass mit dem Tod Gottes auch das Ende des Menschen, wie man ihn bis dahin kannte, gekommen war. Man kann Gott nicht abschaffen und noch an Dingen wie Sinn und traditioneller, altruistischer Moral festhalten wollen, wie es etwa die französischen Aufklärer das versucht hatten. Nietzsche bekämpfte das Weiterleben des Christentums in Moral, Natur, oder Geschichte, weil er es für unaufrichtig hielt.

Eagleton entdeckt eine Reihe von Entsprechungen und Übereinstimmungen zwischen Nietzsche und dem Christentum im Gegenüber zur säkularen Metaphysik und bürgerlichen Religion. Sie beginnt mit der Feststellung, dass wir Menschen die Schuld am Tod Gottes tragen:

Wie im christlichen Glauben ist der einzige Ausgangspunkt das Geständnis, dass göttliches Blut an unseren Händen klebt. Auch der Mensch muss zerlegt werden, insofern er der Einheit und Unendlichkeit Gottes nachempfunden ist. … Der Tod Gottes läutet des Tod des Menschen ein, als jener feigen, schuldbeladenen, abhängigen Kreatur, die diesen Namen derzeit trägt. (S. 159)

Und da liegt auch schon die zweite Parallele, denn der Tod Gottes schließt den Tod des Menschen und die Geburt einer neuen Menschheit ein. Nietzsche scheint gar nicht aufgefallen zu sein, kommentiert Eagleton, wie seine Vorstellung des Übermenschen der neuen Menschheit des Neuen Testaments ähnelt. Und an dieser Stelle wird es Weihnachten und Karfreitag zugleich:

Die Inkarnation ist der Ort, wo sowohl Gott als auch der Mensch eine Art Kenosis oder Selbsterniedrigung durchmachen, symbolisiert durch die Selbstaufgabe Christi. Nur durch diese tragische Selbstentleerung kann sich hoffentlich eine neue Menschheit herausbilden. In ihrer Solidarität mit den Ausgestoßenen und Geplagten ist die Kreuzigung eine Kritik jeglichen anmaßenden Humanismus’. Nur durch das Bekennen von Verlust und Versagen kann die Bedeutung der Macht in das Wunder der Auferweckung verwandelt werden. Der Tod Gottes ist das Leben des Bilderstürmers Jesus, der die abgöttische Vorstellung von Jahwe als erzürntem Despoten erschüttert und ihn stattdessen als verletzlich und aus Fleisch und Blut zeigt.

Man kann Gottes Abwesenheit mit dem Fetisch des Menschen kaschieren, sagt Eagleton. Aber schon der Gott, dessen man sich da entledigt hatte, war nicht viel mehr als ein Fetisch, der Menschen vor der „unerträglichen Wahrheit“ schützt, dass der Gott des Christentums „Freund, Liebhaber und Mitangeklagter ist und nicht Richter, Patriarch und Über-Ich.“ Und so folgert Eagleton:

Für den christlichen Glauben ist der Tod Gottes nicht eine Frage seines Verschwindens, er ist einer der Orte, wo er am gegenwärtigsten überhaupt ist. Jesus ist nicht Mensch, der für Gott eintritt. Er ist ein Zeichen, dass Gott in menschlicher Gebrechlichkeit und Vergeblichkeit Fleisch geworden ist. Nur indem er diese Wirklichkeit voll auslebt und den Tod bis ganz ans Ende erfährt, tut sich ein Weg über das Tragische hinaus auf.

Was genau es mit der Tragik auf sich hat, beschreibt Eagleton etwas später. Nietzsche sei ein Verfechter des Theodizeegedankens in dem Sinne, dass er davon überzeugt gewesen sei, alles Elend der Welt werde dadurch gerechtfertigt, dass schließlich der Übermensch auf den Plan tritt. Ganz ähnlich wie Nietzsche hatte der Liberale John Stuart Mill die Sklaverei als eine notwendig für das Entstehen der antiken Hochkulturen bezeichnet. Ein solches Denken hat für wirkliche Tragik keinen Platz.

Der christliche Glaube hingegen betrachtet das Leiden als unannehmbar. Sich dem Leiden und der Verzweiflung entgegenzustellen und auf die Erlösung hinzuwirken bedeutet, beides nicht als Gelegenheit zu moralischem Heldentum anzusehen:

Der Jesus des Neuen Testaments rät den Kranken kein einziges Mal, sich mit ihren Leiden zu versöhnen. Im Gegenteil, er scheint den Ursprung ihrer Beschwerden als dämonisch anzusehen. In Gethsemane, von Panik über seinen bevorstehenden Tod erfasst, betet er darum, von diesem Schicksal befreit zu werden. Das Los, das ihn erwartet, mag tragisch sein, keinesfalls aber heroisch, als adelte das Leiden einen Menschen. Im Gegenteil, solche politischen Exekutionen sind tragisch, eben weil Schmerz an sich kein Verdienst ist, aber auch, weil er in aller Regel vermeidbar gewesen wäre. (S. 171)

Und dann fallen ein paar wichtige Worte, die in einer Woche, auf die der Schatten des Terrors gefallen ist, besonders wichtig sind:

Jesus musste nicht sterben, genausowenig wie jeder andere politische Gefangene nicht umkommen muss. Das nicht anzuerkennen bedeutet, die Mächte zu entschuldigen, die solche Strafen verhängen. Wenn diesem Leid noch etwas von Wert abgewonnen werden kann, gut und schön. Es wäre vorzuziehen, wenn sich Nutzen auf weniger qualvollem Weg erzielen ließe. … Theodor Adorno war der Tragödie gegenüber aus genau diesem Grund skeptisch: Sie schien ihm dem Sinnlosen zu viel Sinn zuzuschreiben und damit dessen Horror zu mildern.

In Jesus betritt Gott eine Welt voller sinnloser Gewalt. Die Evangelisten machen daraus keinen Hehl, sie erzählen freimütig von Machtpolitik, Verrat und Mord. Denn sie wissen, wie die Geschichte weitergeht und wie sie endet: Mit der Geburt einer neuen Welt und dem Ende aller Tragödien.

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Eine Rodung im Wald

Die menschliche Seele ist eine Rodung im Wald, und dem göttlich Reinen und Makellosen muss es völlig unbegreiflich sein, warum sie immer wieder zuwächst. Das ist der Kampf, von dem die Bibel erzählt. Die Dunkelheit, die sich immer wieder herabsenkt, über Mensch auf Mensch, Generation für Generation, Jahrhundert für Jahrhundert.

Karl Ove Knausgård, Alles hat seine Zeit

praerie

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Zwiespältige Führungsstärke

Vor einer Weile wurde im Fußball diskutiert, ob ein Team einen „aggressive Leader“ braucht. Inzwischen ist die Idee in der Politik wieder in Mode gekommen und lässt knorrige Kicker wie Mark van Bommel schrecklich harmlos aussehen. Dabei weiß schon das Buch Richter in der hebräischen Bibel über diesen autoritären Typ Anführer nicht Gutes zu berichten. Mehr noch – schon der Wunsch nach einer großen Führungsperson wird kritisiert:

Einst machten sich die Bäume auf, um sich einen König zu salben, und sie sagten zum Ölbaum: Sei du unser König! Der Ölbaum sagte zu ihnen: Soll ich mein Fett aufgeben, mit dem man Götter und Menschen ehrt, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?

Da sagten die Bäume zum Feigenbaum: Komm, sei du unser König! Der Feigenbaum sagte zu ihnen: Soll ich meine Süßigkeit aufgeben und meine guten Früchte und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?

Da sagten die Bäume zum Weinstock: Komm, sei du unser König! Der Weinstock sagte zu ihnen: Soll ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und hingehen, um über den anderen Bäumen zu schwanken?

Da sagten alle Bäume zum Dornenstrauch: Komm, sei du unser König! Der Dornenstrauch sagte zu den Bäumen: Wollt ihr mich wirklich zu eurem König salben? Kommt, findet Schutz in meinem Schatten! Wenn aber nicht, dann soll vom Dornenstrauch Feuer ausgehen und die Zedern des Libanon fressen.

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Zeitansagen

Im heutigen Evangelium hieß es zu Beginn des Abschnitts:

Es war im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus war römischer Bevollmächtigter von Judäa. Herodes regierte als Landesfürst in Galiläa, sein Bruder Philippus als Landesfürst in Ituräa und Trachonitis. Und Lysanias regierte als Landesfürst in Abilene. Die Obersten Priester waren Hannas und Kajaphas.

Man kann das als die Bemühung des Historikers um eine genaue zeitliche Einordnung lesen. Oder als ein Stimmungsbild, als eine Erklärung, warum dringend etwas passieren musste. Aktuell würde das ungefähr so lauten:

Es war in der dritten Amtszeit von Wladimir Putin, des Erfinders der „gelenkten Demokratie“. Der Rechtspopulist Donald Trump war gerade zum Präsidenten der USA gewählt worden. Für Patriarch Kirill war Putins Wahl 2011 ein „Wunder Gottes“, für Franklin Graham und seine Freunde die von Donald Trump. Apropos Gott: Präsident Erdogan nannte den gescheiterten Militärputsch in der Türkei ein „Geschenk Gottes“ und ließ Zehntausende von Kritikern verhaften. Der Krieg in Syrien ging in seinen sechsten Winter. Die Briten stimmten für den Austritt aus der EU. Dax und Dow Jones erreichten derweil Höchststände.

Wer die Gedanken zu Lukas 3,1ff weiter hören möchte – einfach hier klicken.

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Wir Luxuswesen

Der Mensch ist ein Luxuswesen. Der Luxus im ursprünglichen Sinn ist keine konsumistische Praxis. Er ist vielmehr eine Lebensform, die frei ist von der Notwendigkeit. Die Freiheit beruht auf der Abweichung, auf dem Luxieren von der Notwendigkeit. Der Luxus transzendiert die Intentionalität, die Not zu wenden. Heute wird der Luxus vom Konsum vereinnahmt. Exzessiver Konsum ist eine Unfreiheit, ein Zwang, der der Unfreiheit der Arbeit entspricht. Der Luxus als Freiheit ist wie das Spiel nur jenseits von Arbeit und Konsum denkbar. So gesehen, ist er der Askese benachbart.

Byung-Chul Han, Psychopolitik, S. 72

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Bild: Yuliya Ginzburg, Unsplash.com, Lizenz: Creative Commons Zero

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Was wird aus unserer Welt?

Das Katastrophenjahr 2016 geht zu Ende. John Oliver hat ihm schon vorab einen sarkastischen Rückblick gewidmet. Viele fragen sich derzeit, wo es hingeht mit unserer Welt. Die Epistel des Ewigkeitssonntags hatte darauf eine Antwort parat, in der eine ganze Reihe von Hinweisen enthalten sind, die entdeckt und entschlüsselt werden wollen.

Was also verbirgt sich hinter den poetischen Sätzen über einen neuen Himmel und eine neue Erde? Warum muss das Meer verschwinden, wo wir doch so gerne am Strand spazieren gehen oder uns in die Wellen stürzen? Und wie ist das zu verstehen, dass Gott am Ende unter den Menschen zeltet? Was hat das für Folgen für den Umgang mit Macht und die Beziehungen zwischen Menschen, Völkern und Kulturen?

Und wenn das die Vorstellung des End-Gültigen ist, die uns geschenkt ist, was bedeutet das auch in dunklen Tagen für unser Gottesbild, für unser Verhältnis zu Welt und zu uns selber, und für unsere Erwartung an die Zukunft, in deren Horizont wir schon jetzt leben?

Hier habe ich meine Gedanken dazu formuliert (bis ca Minute 18).

Wer möchte, kann dazu Heaven for Everyone hören. Vor 10 Tagen – auch das passte zum Ewigkeitssonntag – war Freddy Mercurys 25. Todestag. Und wenn man sich vorstellt, mit dem „du“ im Text des Liedes ist Gott gemeint, dann wird daraus sogar ein ganz passables Gebet…

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