Albtraum anno 2017

Viel früher als normal wachte ich heute morgen auf mit vagen Erinnerungen an den Traum, den ich gerade gehabt hatte. Das ist nicht sehr häufig der Fall. Aber noch bemerkenswerter war der Inhalt des Traumes. Vielleicht ist es deshalb sinnvoll, das festzuhalten.

Ich war mit einer Gruppe von Leuten in einem flachen Landstrich entlang einer Staatsgrenze zu Fuß unterwegs. Deutschland war es nicht. Plötzlich rief jemand nach mir und ich sah auf der anderen Seite der Grenze, die ein loser Stacheldraht markierte, einen Verletzten liegen. Der Mann brauchte medizinische Hilfe, Schutz gegen die Kälte und etwas zu essen. Ich versuchte, meinen Arm unter dem Draht durchzuschieben und ihm etwas zu geben von dem, was ich zufällig bei mir trug. Für einen humanitären Einsatz war ich gar nicht ausgerüstet.

Dann aber stürmten – noch in einiger Entfernung – Bewaffnete aus dem Gebüsch, riefen irgendwelche Kommandos und begannen zu schießen. Ich ging in Deckung und versuchte, unsere nahegelegene Unterkunft zu erreichen. Die anderen Mitglieder der Gruppe kamen ebenfalls aus unterschiedlichen Richtungen angerannt.

Was mit dem Verletzten geschah, weiß ich nicht. Das war der Moment, an dem ich aufwachte und nicht mehr einschlief. Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt jemals eine Kriegsszene geträumt zu haben.

Aber es ist eben 2017.

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Die affige Mauer nach Mexiko

Mexikos Präsident hat das Treffen mit dem mächtigsten Mann der Welt abgesagt. Das ist keine Überraschung, wenn man betrachtet, wie zwischenmenschliche Kooperation funktioniert: Die meisten Menschen lehnen unfaire Angebote ab, selbst wenn sie dafür selbst Nachteile in Kauf nehmen müssen. Mexiko „mauert“ auf der Kommunikationsebene zurück: Eskalation statt Kooperation.

Der Anthropologe Mike Tomasello hat das intensiv erforscht: Wir Menschen zeichnen uns durch eine ausgeprägte Kooperationsfähigkeit aus. Wir sind dabei auch in der Lage, mit einer gewissen Selbstlosigkeit zu handeln, oder besser ausgedrückt, mit einem Blick auf das Gemeinwohl. Das unterscheidet uns von Primaten:

Affen sind rationale Maximierer und am Teilen so gut wie gar nicht interessiert. Im Gegensatz zu Menschen, die sich von früh an hüten, allzu unfaire Angebote zu machen, weil sie wissen, dass ihre Mitspieler genauso wie sie selbst solche durchaus zurückweisen, obwohl sie dann gar nichts bekommen.

„Teilen lernt nur, wer es schon kann“ steht über dem Bericht, den die FAZ damals zu Tomasellos Thesen geschrieben hat. Im Blick auf Donald Trump lässt diese Feststellung leider nur wenig Hoffnung aufkommen. Selbst Wahrheit und Fakten sind sein Exklusivbesitz.

Im Blick auf seine Wähler jedoch stellt sich die Frage nach der Fairness um so mehr: Wer sich als Verlierer fühlt, der sabotiert das Spiel eben auch dann, wenn er sich selbst dabei am meisten schadet. Genau davon profitieren die Rechten derzeit so massiv. Leider sind in diesem komplexen Spiel (anders als in bilateralen Szenarien wie zwischen zwei Regierungen) so viele verschiedene Akteure beteiligt, dass die Strafaktion oder der Protest sehr wahrscheinlich die falschen trifft – nämlich die, die auf allen Seiten der Mauer am Verwundbarsten sind.

Generell lautet der kategorische Imperativ in einer kosmopolitisierten Zeit „cooperate or die“, wie Ulrich Beck in Die Metamophose der Welt kurz und knackig formulierte. Mit Unabhängigkeitserklärungen hingegen lösen wir die unsere Probleme im 21. Jahrhundert nicht mehr. Wer, wie Tomasellos Primaten, vor allem auf einseitige Maximierung des Gewinns aus ist und jeden Deal als Nullsummenspiel betrachtet, der kann damit kurzfristig Erfolg haben.

Allerdings geht das dann zwangsläufig auf Kosten der Gemeinschaft, wie das Gefangenen-Dilemma zeigt. Wer also nicht vertrauen und teilen kann, der ist wirklich arm dran.

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Angeknackste Identität, oder: Zwischen Fake und Wirklichkeit

Wie kann man nach einer solchen Woche predigen, in der Bernd Höcke das Holocaust-Gedenken und die Erinnerungskultur als Schande bezeichnet und in der Donald Trump vor und nach seinem Amtsantritt als US-Präsident alles als Lüge und Fake beschimpft, was seine Eitelkeit verletzt?

Und was haben solch schrille Töne zu tun mit den schleichenden Verunsicherungen und Auflösungstendenzen, die auch christlichen Gemeinden zu schaffen machen, weil Beziehungen oberflächlicher werden und Menschen in der Konsumgesellschaft des Neoliberalismus allein bleiben? Hier trifft die Nachrichtenlage und die Identitätspolitik auf unsere Alltagsfragen und -nöte.

Was haben wir solchen Kräften, die auf viele verängstigend und zersetzend wirken, entgegenzusetzen? Wie muss eine christliche Identität im 21. Jahrhundert gestrickt sein, damit sie kein Fake ist – also auch nicht der Versuch, „die Fragen, die der Modernisierungsprozess aufwirft, ideologisch zu entsorgen“, wie Ulrich Beck das dem um „hergestellte und herstellbare Fraglosigkeit“ bemühten Biologismus, ethnischen Nationalismus, Neorassismus oder dem militanten religiösen Fundamentalismus vorwirft?

Welche Praxis des Glaubens und welche Vorstellung von Evangelium und Kirche hat also Aussicht auf Bestand und kann zum Frieden in der Welt beitragen?

Die Antwort habe ich im Blick auf ein anderes Mahnmal der Schande – das Kreuz – (und mit einem kurzen Seitenblick ins aktuelle Philosophie-Magazin) versucht, halbwegs allgemeinverständlich zu formulieren. Wenn Euch das Ergebnis interessiert, könnt Ihr den Mitschnitt hier anhören und dort die Kernsätze mit- oder nachlesen.

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Der Atheismus des Marktes und die Folgen: Eine Verbeugung vor Zygmunt Bauman

Der Soziologe Zygmunt Bauman ist kürzlich gestorben. Es gibt wenige Autoren, die meinen Blick auf die Welt in den letzten zehn Jahren so nachhaltig beeinflusst haben wie der Mann aus Posen, der zwei Diktaturen erlebte. Es war vor allem seine differenzierte Sicht der gesellschaftlichen Veränderungen, die er „flüchtige Moderne“ nannte. Das war ein großer Fortschritt gegenüber viele diffusen und gelegentlich auch reichlich konfusen Konzepten von „Postmoderne“. Wir alle leben in der Flüchtigen Moderne, ob wir nun dem Postmodernismus zuneigen oder nicht (selbst dessen erbittertste Feinde, fand Bauman, die Fundamentalisten religiöser und atheistischer Färbung, sind allesamt typische Exemplare dieser zweiten Moderne).

Als kleine Verbeugung vor dem großen Mann habe ich im letzten Kapitel von Terry Eagletons „Culture and the Death of God“ geblättert, von dem ich den Eindruck habe, dass hier ganz ähnliche Gedanken (nun aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers) auftauchen. Es wirkt wie ein Echo auf Baumans Thesen. Vielleicht finden es ja auch andere tröstlich, dass seine Ideen und Entdeckungen weiterleben.

Eagleton hat nachgezeichnet, wie im Laufe der Säkularisierung verschiedene Dinge als Platzhalter für „Gott“ ins Spiel gebracht wurden: Die Vernunft, die Kultur, die Geschichte, die Nation, die Ästhetik, die Menschheit (bis hin zu Nietzsches Übermenschen) – all das hatte eine transzendente Dimension. Gott war zumindest in seiner Abwesenheit präsent, und die Lücke, die er bei denen hinterließ, die nicht mehr an ihn glaubten oder nicht mehr von ihm sprechen wollten, blieb durch diese Platzhalter sichtbar:

Während der Modernismus den Tod Gottes als Trauma erfährt, als einen Affront, gleichermaßen eine Quelle der Angst wie ein Grund zum Feiern, erfährt der Postmodernismus ihn gar nicht mehr. Es gibt in der Mitte des Universums kein gottförmiges Loch, […] es gibt überhaupt keine Lücke mehr in diesem Universum. […] Das postmoderne Subjekt tut sich schwer, in sich selbst genug Tiefe und Kontinuität zu finden, um ein geeigneter Kandidat für tragische Selbstaufgabe zu werden. Man kann nichts aufgeben, was man nie besessen hat. Wenn es keinen Gott mehr gibt, dann zum Teil deshalb, weil es keinen geheimen, inneren Ort mehr gibt, wo er sich einstellen könnte. (S. 186)

Wenn aber weder die Einheit des Subjektes noch die Einheit der Welt einen sicheren Ausgangspunkt des Denkens bildet, dann ist auch für den einen Gott kein konzeptioneller Raum mehr vorhanden. Der Mensch hört auf, sich als intentional und schöpferisch zu betrachten. auch das hat mit einem Wandel der Gesellschaft zu tun, und zwar einem, der auch Bauman intensiv beschäftigt hat:

Konsumenten sind passive, diffuse, vorläufige Subjekte – so wird der Allmächtige traditionellerweise nicht dargestellt. Solange Menschen als Produzenten, Arbeiter, Hersteller, Gestalter ihrer selbst angesehen werden, kann Gott nie völlig erlöschen. Hinter jeder produktiven Tätigkeit lauert ein Bild der Schöpfung, und ein schöpferischer Akt im besonderen – die Kunst – konkurriert mit dem Allmächtigen selbst. Aber nicht einmal er kann den Advent des Menschen als des ewigen Konsumenten überleben. (S. 190)

Das neue absolute Prinzip ist die Kultur. Alles ist Kultur, alles ist kulturell erzeugt und überformt, jedes Nachdenken darüber ist wiederum ein kulturelles Geschehen; Kultur ist unhintergehbar, aber sie ist nicht mehr transzendent, sondern nur noch transzendental – die Bedingung der Möglichkeit all dieser Phänomene. Das wirkt sich auch auf postmoderne Religiosität und Spiritualität aus:

Spiritualität ist das Bedienen von Bedürfnissen, die einem die Stylistin oder der Aktienhändler einem nicht erfüllen kann. Doch im Grunde ist diese ganze Zweite-Hand-Jenseitigkeit nur eine Form des Atheismus. Ein Weg, sich erhaben zu fühlen ohne die krasse Unannehmlichkeit Gottes. (S. 191f.)

Ebenso werden Überzeugungen und Glaubensansichten postmodern zu Accessoires, die man eher zu ästhetisch-dekorativen Zwecken benutzt, als dass man sich ihnen bleibend verpflichtet fühlen würde. Die Suche nach Glaube und Gewissheit wird dagegen prinzipiell wahlweise als Schwäche diffamiert oder als erster Schritt zu einem tyrannischen Dogmatismus. Eagleton kommentiert:

Überzeugung setzt eine Einheitlichkeit des Selbst voraus, die sich nur schwer verträgt mit dem flatterhaften, adaptiven Subjekt des fortgeschrittenen Kapitalismus. Außerdem ist zuviel Lehrmeinung schlecht für den Konsum. Sie ist außerdem aus der Mode, weil der Glaube die Gesellschaft nicht zusammenhält wie die Lutherische Kirche oder die Pfadfinderbewegung. Der Kapitalismus mit seinem Hang zum Pragmatischen, Utilitaristischen, vor allem in seiner postindustriellen Inkarnation, ist eine zutiefst glaubenslose Gesellschaftsordnung. Zu viel Überzeugung ist für dein Funktionieren weder notwendig noch wünschenswert.

… Die Glaubenslosigkeit des fortgeschrittenen Kapitalismus ist in seinen praktischen Routinen eingebaut. Sie ist nicht primär eine Frage der Frömmigkeit oder Skepsis seiner Bürger. Der Markt verhielte sich auch dann noch atheistisch, wenn jeder Marktteilnehmer ein wiedergeborener Evangelikaler wäre. (S. 195f.)

Mit dem Ende des kalten Krieges dachten viele, es sei nicht nur das ende der Geschichte gekommen, sondern auch das Ende aller großen, sinnstiftenden Erzählungen. Und hier beginnt die große Ironie des 21. Jahrhunderts:

Kaum war eine gründlich atheistische Kultur auf den Plan getreten, eine, die nicht mehr ängstlich diesem oder jenem Platzhalter für Gott anhing, setzte sich die Gottheit mit Nachdruck wieder auf die Tagesordnung. Die beiden Ereignisse sind keineswegs unzusammenhängend: Der Fundamentalismus hat seine Ursache in der Angst, weniger im Hass. Er ist die pathologische Denkweise all jener, die fühlen, dass in einer schönen neuen spätmodernen Welt gescheitert sind, und von denen einige schlussfolgern, dass sie auf ihre unterbewertete Existenz nur dadurch aufmerksam machen können, dass sie eine Bombe im Supermarkt explodieren lassen. (S. 197)

Der Allmächtige wurde anscheinend in seinem Sarg gar nicht sicher festgenagelt. Er hatte einfach nur die Adresse geändert, er emigrierte in den Bible Belt der USA, die Evangelikalen Gemeinden Lateinamerikas und die Slums der arabischen Welt. Und sein Fanclub wächst stetig an. (S. 199)

Eagleton macht sich ausgiebig lustig über die Versuche der politischen Linken (er nennt z.B. Agamben, Zizek, Badiou, Habermas und de Botton) das humanitäre und soziale Potenzial der Religion (zumal der christlichen) zu instrumentalisieren, ohne sich auf ihre inneren Überzeugungen jemals ernsthaft einzulassen und den eigenen Materialismus in Frage zu stellen.

Bauman hat sich, so weit ich sein Werk kenne, nie als religiöser Mensch geäußert. Anders Eagleton, der damit über Bauman hinausgeht und diesen Gedankengang schließt, indem er – zutreffend, wie ich finde – schreibt:

Dem christlichen Glauben geht es jedoch nicht um moralische Erbauung, politische Einheit oder ästhetischen Charme. Er setzt auch nicht bei irgendeiner ominös-verschwommenen ‚unendlichen Verantwortung‘ an. Er beginnt mit einem gekreuzigten Leib. (S. 206)

… Wenn religiöser Glaube von der Bürde befreit wäre, soziale Ordnungen mit Rechtfertigungen ihres Vorhandenseins zu möblieren, dann wäre er frei, seinen wahren Zweck wiederzuentdecken als Kritik all solcher Politik. So gesehen läge sein Heil in seiner Überflüssigkeit. Das Neue Testament sagt kaum etwas über staatsbürgerliche Verantwortung. Es ist überhaupt kein „zivilisiertes“ Dokument. Es zeigt keinerlei Begeisterung für gesellschaftlichen Konsens. […] Es untermauert nicht die Feld-Wald-und-Wiesen-Moral, sondern bringt die äußerst unbequeme Nachricht, dass unsere Lebensformen eine radikale Auflösung durchmachen müssen, wenn sie als gerechte und barmherzige Gemeinschaften wiedergeboren werden sollen. Das Zeichen dieser Auflösung ist die Solidarität mit den Armen und Ohnmächtigen. Hier könnte eine neue Konfiguration von Glaube, Kultur und Politik geboren werden.

Dazu in ein paar Tagen mehr.

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Der Tag des sprechenden Feuers

Alle Schafe in meiner Herde erinnern sich noch an den Tag des sprechenden Feuers. Seither ist nämlich nichts mehr so, wie es war. Das kommt davon, wenn man zu weit geht.

Keines von uns kann sich an die Zeit erinnern, als Mose noch nicht da war. Aber uns allen fiel auf, dass er nicht wie die anderen Hirten war. Die älteren unter uns wussten noch von ihren Eltern und Großeltern, dass er irgendwann vor einem halben Menschenleben und von irgendwoher bei Jethros Sippe auftauchte. Er blieb, und weil er keinen anderen Beruf erlernt hatte, bekam er eine Herde Schafe zugeteilt.

Wir kannten Mose nur als jemand, der in sich zu ruhen schien. Er wirkte versöhnt mit sich und seinem Leben, wenn er abends am Feuer saß und zu den Sternen hinaufschaute. Aber das war nicht immer so: Anfangs soll er rastlos und gehetzt gewirkt haben. Immer wieder suchten seine Augen den südlichen Horizont über der Steppe ab und wenn sie etwas entdeckten, dann wurde der Griff um seinen Stock so fest, dass die Fingerknöchel weiß waren. Dabei wollte außer uns und seiner Frau eigentlich nie jemand etwas von ihm. Angst und Fluchtreflex wichen irgendwann einer Leere und tiefen Resignation. Dann mussten wir Schafe ihn fast dazu antreiben, neues Weideland zu finden oder uns zum Wasserloch zu lotsen. Sein Gang war ungelenk und schwerfällig. Er schien durch uns hindurchzusehen, als wären wir Rauch- oder Nebelschwaden. Innerlich war er meilenweit weg. Aber er fand den Weg zurück. Zurück in das Hier und Jetzt, in die staubige, sonnenverbrannte und schweißgetränkte Wirklichkeit. Irgendwann lachte er wieder. Und manchmal summte er sogar ein Lied.

Den ängstlichen und den abwesenden Mose hätten wir durchaus ziehen lassen. Aber der Abschied vom angekommenen Mose traf uns alle ziemlich hart.

Ich muss sagen, ich hatte schon ein schlechtes Gefühl, als wir an jenem Tag den Rand der Steppe überschritten und uns in die Wüste hinein bewegten. Es hatte doch seinen guten Grund, dass Mose uns bisher nie dorthin geführt hatte. Was außer Sand und Felsen, Leere und Gefahr erwartet einen dort? Das Irritiendste daran war, dass wir alle das Gefühl hatten, Mose wisse nicht so recht, was er dort wolle. Aber das wäre doch das Mindeste, was man als Schaf von seinem Führer/Hirten erwarten kann! Zögerlich trotteten wir also hinter ihm her. Aber er schien unseren Bummelstreik gar nicht zu bemerken, und irgendwann gaben wir ihn dann auch auf. Etwas Unbekanntes zog diesen Menschen an.

Ebenso unvermittelt, wie er losmarschiert war, blieb er auf einmal stehen und kniff die Augen zusammen. „Versucht er, sich an den Rückweg zu erinnern?“, fragte ich mich besorgt und ärgerte mich nicht zum ersten Mal, dass ich seine Sprache nicht sprechen konnte und er die unsere so schlecht verstand.

Irgendwann fiel uns auf, dass er einen brennenden Busch anstarrte.

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Feuer finden wir Schafe nicht attraktiv. Wir brauchen es nicht wie die Menschen, um uns daran zu wärmen oder damit Essen zuzubereiten. Wir können es weder anzünden noch löschen. Aber wir wissen genau, wie schnell es sich in trockenem Gras und Gebüsch ausbreitet und wie gefährlich das werden kann. Abstand wahren heißt daher die Devise, die wir schon im Lämmergarten lernen. Doch das war kein gewöhnliches Feuer. Es flackerte, aber kein Rauch schien aufzusteigen, kein Zweig knisterte und fiel glühend zu Boden. Hitze hätte man in der flirrenden Wüstenluft ohnehin kaum bemerkt.

Was war das?

Das Feuer rief Mose beim Namen. Es sprach nicht in der Sprache der Midianiter und auch nicht in der der Ägypter, die Mose ab und zu benutzte, wenn er einen Fluch ausstieß. Mose antwortete in derselben Sprache: „Hinneni – hier bin ich.“ Das Feuer sagte zu Mose, er solle näher kommen und die Schuhe ausziehen. Barfuß stand er auf dem nackten Fels vor dem Feuer, das im Busch war und doch nicht da war oder wenigstens nicht so, wie ein gewöhnliches Feuer da ist und brennt. Es war eine Anwesenheit, die sich nicht greifen ließ – nicht mit Händen, nicht mit Worten – die aber deswegen nicht weniger wirklich zu sein schien. Und sie war ausgesprochen packend: Die Worte gingen nicht einfach nur ins Ohr, sondern sie schienen wie die Wärme der Wüstensonne ohne erkennbaren Widerstand die Haut zu durchdringen und tief ins Innere hineinzustrahlen.

Mose war wieder verstummt.

Aus der Ferne war schwer zu verstehen, was das Feuer ihm sagte. Anscheinend ging es um Menschen, die Mose kannte und über deren kritische Lage er Bescheid wusste. Zumindest fragte er kein einziges Mal nach. Er stand einfach nur da, starrte in die Flammen und nickte ab und zu fast unmerklich mit dem Kopf. Aber je länger er so dastand, desto mehr richtete sich sein Rücken auf. Sein Körper spannte sich wie die Sehne eines unsichtbaren Bogens, und die Schultern wirkten auch schon breiter als noch vor einigen Minuten.

Das Feuer sprach inzwischen weiter von einem Land, wo Milch und Honig fließen. Ich dachte, jetzt übertreibt es aber maßlos. Wo bitteschön gibt es sowas? Aber Mose schien in dieser unwirtlichen Umgebung förmlich riechen und schmecken zu können, was ihm zu Ohren kam. Vor uns stand nicht mehr der Hirte, der seinem Schwiegervater half und dessen Leben den Bahnen das gewohnten Alltags folgte, sondern jemand, der nach einem langen und tiefen Schlaf aufgestanden war. Hellwach lauschte er der Stimme.

Nach einer Weile wurde es still und das Feuer ging aus. Doch es war nicht weg: Als Mose uns entgegenkam, auf nackten Sohlen, die Schuhe in der Hand, sah ich es in seinen Augen leuchten. Und ich erkannte etwas vom Tonfall der Feuerstimme wieder, als er uns rief, um den Heimweg anzutreten.

Mich überkam ein seltsames Gefühl, das ich bisher nicht gekannt hatte: Eine Spur von Traurigkeit, als hätte ich etwas Wertvolles verloren, gepaart mit dem Wunsch, sich wie ein Adler aufschwingen zu können, hoch hinauf in die wirbelnde Luft, um den Horizont abzusuchen und es zu finden. Es war, als würde sich in mir alles ausdehnen – Kummer, Verletzlichkeit, Verlangen, Hoffnung, Mut – als wäre meine Seele eine dieser Wüstenpflanzen, die in der Trockenheit verschrumpeln und dann beim ersten Regen ihre Blätter nach allen Seiten recken; als hätte das frische Wasser dieser Begegnung den alltäglichen Durst gestillt und einen noch tieferen geweckt.

Das war nicht mein Gefühl – Schafe empfinden so etwas eigentlich nicht, es schwappte nur über mich hinweg und ließ dann wieder nach. Aber ich habe an diesem Tag etwas Entscheidendes über die Menschen gelernt: Sprechendes Feuer kann in ihnen wohnen. Und wenn es einen erfasst hat, springt es zum nächsten. Es gibt den Alten die Frische der Jugendlichkeit und Jugendlichen die Festigkeit des Alters. Die Grenzen des Möglichen werden neu gezogen. Denn das erste, was das Feuer in ihnen verbrennt, ist Gleichgültigkeit, Abstumpfung und Resignation. Das zweite ist Angst und Sorge, der verkümmerte Geist. Menschen sind merkwürdig: Sie können sich verändern und zugleich mehr denn je sie selbst werden. Und wenn das Feuer sie packt, zieht notfalls einer allein los und nimmt es mit einem Tyrannen auf.

Wie es mit Mose weiterging? Das wisst Ihr bestimmt viel besser als ich. Wir haben ihn damals an das Feuer aus der Wüste verloren. Aber mein Gefühl sagt mir, die Welt der Menschen hat an jenem Tag einen Fackelträger der Hoffnung gewonnen. Das sprechende Feuer ist immer noch in der Welt unterwegs. Wenn es bei Euch vorbeikommt – jetzt wisst Ihr ja Bescheid.

Und denkt daran, die Schuhe auszuziehen.

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