Alltägliche Kollisionen

Ein Samstagmorgen in der Fußgängerzone. In der Nähe des Ortes, wo ich mein Rad abgestellt habe, steht in junger, blonder Russlanddeutscher auf der Straße und predigt – irgendwas über Sünde und Gericht, die üblichen Bibelstellen und ein vager Exkurs in die eigene sündige Vergangenheit. Man mag ihm gar nichts Schlimmes zutrauen, wie er da so steht, ein bisschen blass, mit inzwischen heiserer Stimme. Und tatsächlich kommen auch keine anderen Konkretionen als dass er damals sein Geld für Dinge ausgegeben hat, die ihm Spaß machen. Ist das ein bewusster Versuch, so etwas wie Gemeinsamkeit mit potenziellen Zuhörern auszudrücken?

Neben ihm stehen drei Kinder und halten Traktate in der Hand. Der Mann pausiert, wendet sich ihnen kurz zu, und fährt dann in seiner Ansprache fort. Doch das Erlösungsbedürfnis der Erlanger ist heute überschaubar: Niemand bleibt stehen und die Passanten, die in einiger Entfernung auf Bänken in der Sonne sitzen oder auf den Bus warten, scheinen ihn zu ignorieren. Ich hoffe um der Kinder willen, dass seine Stimme nicht mehr lange hält, und er bald guten Gewissens die Segel streichen kann.

Gegenüber steht ein Tisch mit einer türkischen Fahne, türkischen Schildern und einem, das auf Deutsch sagt, alle Macht geht vom Volke aus. Ich vermute, darin steckt eher Kritik an den Plänen der AKP für eine Verfassungsänderung. Hinter mir geht eine Frau mit partiell rot eingefärbtem, dunklem Haar vorbei, die den Stand wütend betrachtet. Im Weitergehen schreit sie auf Türkisch etwas augenscheinlich Unfreundliches über ihre Schulter, später dreht sie sich noch zweimal um und reckt den Mittelfinger in die Luft in Richtung der Nestbeschmutzer, ihre Miene ist immer noch grimmig verzerrt, sie kann sich gar nicht mehr beruhigen.

Politischer Dialog, der mit Hass beantwortet wird, und religiöser Monolog, der nirgends ankommt. Und wir irgendwo zwischendrin. Alles auf engem Raum an einem Samstagmorgen in der Fußgängerzone.

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