Queere Weihnachtstradition

Vielleicht lag es daran, dass ich einen Bericht des Sonntagsblatts über Queere Theologie quergelesen hatte, als ich gestern Nachmittag in die Stadt ging.

Dort hängt noch die Weihnachtsbeleuchtung, in der das „Christkind“ eine große Rolle spielt. In Nürnberg ist das gar kein Kind, sondern eine Mischung aus Rauschgoldengel und Himmelskönigin (es trägt eine Krone, die haben Engel normalerweise nicht). Also ziemlich das Gegenteil dessen, was die christliche Tradition an Weihnachten feiert, wenn wir singen „wahr Mensch und wahrer Gott“.

Das „Christkind“ ist keins von beiden. Interessant ist freilich: Es wird seit 1975 immer von einer jungen Frau verkörpert, zugleich ist es offensichtlich nicht-binär. Erstens, weil der begriffliche Bezug zum Christus noch da ist. Und zweitens, weil Engel, wie wir seit Alan Rickmans großartigem Auftritt in „Dogma“ wissen, geschlechtslos sind:

Das „Christkind“ gibt es seit 1933 (!), schreibt die Stadt. Es ist nicht nur ein Beispiel für weihnachtlichen Synkretismus (den sind wir ja gewohnt in Zeiten des Christdemokratenbaums). Sondern auch eine durch und durch queere Erscheinung. Das fand ich, als es mir gestern auffiel, doch sehr bemerkenswert.

Vielleicht hätte die Erinnerung an das Nürnberger „Christkind“ die Aufregung etwas dämpfen können, die der Satz „Gott ist queer“ in Quinton Ceasars Abschlusspredigt des Kirchentags hervorgerufen hat. Diese Worte fielen übrigens an genau dem Ort, wo das „Christkind“ jedes Jahr zum Christkindlesmarkt seinen großen Auftritt hat. In Nürnberg sagt das niemand laut, aber Advent und Weihnachten haben hier doch einen spürbar queeren Charakter. Vielleicht trägt das „Christkind“ zum 100. Jahrestag dann ja einen Regenbogen. Vielleicht auch schon eher?

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Echt bayerisch…

Es war vor der Wahl, als noch an jeder Straßenecke das Konterfei des Ministerpräsidenten prangte. Ich ging kurz hinter der Grenze zu Oberbayern einen Kaffee trinken. Auf der Serviette der Bäckereifiliale las ich: „Echt bayerisch – echt gut“.

Mag sein, dass ich noch den Wahlkampf in den Ohren hatte, der von Regierungsseite praktisch ohne Sachthemen auskam und sich strikt an das Motto „Bayern ist schön und die Grünen sind böse“ hielt. Was außer den Grünen auch niemand im Freistaat störte.

Jedenfalls stieß mir diese nicht so ganz stillschweigende Gleichsetzung von Bayern und gut sauer auf. Dieses andauernde Sich-Selbst-auf-die-Schulter-Klopfen. Diese bornierte Selbstzufriedenheit und die latente Fremdenfeindlichkeit, die aus dieser Verknüpfung spricht. Nein, nicht immer und in jedem Fall, aber eben viel zu oft.

Eine Woche nach der Wahl sitze ich im Zug nach Erlangen, um einen Krankenbesuch zu machen. Ein paar Plätze weiter sitzen ein paar junge Männer um die 20, die in einer fremden Sprache Handyvideos anschauen. Weil die Lautstärke unnötig hoch ist, drehe ich mich zu ihnen um und frage vorsichtig, ob sie das auch mit Kopfhörer tun könnten. Die zwei entschuldigen sich und hören leise weiter.

Wenn das einmal geklappt hat, klappt es bestimmt nochmal, denke ich im Regionalexpress auf der Rückfahrt. Da sitzen wieder junge Männer, diesmal etwa zehn von ihnen. Ihr Dialekt weist sie unverkennbar als Bewohner eines östlich angrenzenden Regierungsbezirks aus. Sie reden, nein rufen, wild durcheinander, und weil niemand den anderen richtig ausreden lässt, steigt der Geräuschpegel ins Unerträgliche. Ich gehe hin und bitte den ersten aus der Runde, zu dem ich Blickkontakt bekomme, freundlich und behutsam darum, die Konversation etwas leiser fortzusetzen.

Das hätte ich mal lieber bleiben lassen. Ungläubiges Staunen schlägt mir entgegen. Die Gruppe verstummt kurzzeitig, um dann in um so lautstarkere Empörung auszubrechen, was mir denn einfiele, welche Unverschämtheit und so weiter. Die nächsten zehn Minuten haben sie kein anderes Gesprächsthema als diesen Affront. Ich sitze längst wieder an meinem Platz, aber natürlich höre ich (und alle anderen Mitreisenden), wie sie sich über den Idioten ereifern, der ihnen Vorschriften machen will. Sie erklären einander, dass sie ja eigentlich friedliche Menschen sind, . Und wenn sie in meine Richtung reden, tun sie es extra laut.

Die Knaben sind (wenigstens äußerlich betrachtet) längst keine Halbstarken mehr, und ganz offensichtlich der Überzeugung, dass sie die Guten sind. Sie sind halt auch Bayern. Das kann jetzt natürlich ein Zufall gewesen sein. Aber irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass dieses Geklopfe auf die eigene Schulter uns gerade gar nicht gut tut.

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Teuflische Topographie

Vor ein paar Wochen war ich mit meiner Tochter in den Bergen, am Teufelstättkopf. Es war eine wunderschöne Tagestour. Aber sie warf bei mir die Frage auf, warum Teufel & Co so oft Pate stehen, wenn markante Orte benannt werden. Die größte Tropfsteinhöhle der Frankenalb hat man „Teufelshöhle“ genannt. Da spielte offenbar der (Aber)glaube eine Rolle. Die Leute fragten sich: Könnte das große Loch der Eingang zur Unterwelt sein? So, wie man auch Geister in den Nebelschwaden vermutete, die im Novemberwind um schroffe Berggipfel tanzen.

Manchmal war es aber auch die Lust am Fabulieren. Ein Sandstein-Geotop im nahen Reichswald soll sich der Teufel gekrallt haben, um es nach einem wohltätigen und frommen Adelsfräulein zu werfen. Aber das Gebet der Angegriffenen durchkreuzte die böse Absicht. Heute erinnert ein Schild der Bayerischen Staatsforsten GmbH an die Legende. Ach, und  „Teufelstische“ sind mir im Bayerischen Wald wie auch im Pfälzer Wald begegnet, aber ganz bestimmt gibt es viele, die ich noch nicht kenne.

Früher war vielleicht auch schwarze Pädagogik im Spiel: Kinder und vorwitzige Charaktere sollen sich fernhalten von Orten, an denen beim Auf- und Abstieg Gefahr droht. Teufelsgeschichten waren besser und wirkungsvoller, als Warnschilder aufzustellen. Wenn man heute sieht, wie überlaufen bestimmte Orte sind, und wie leichtfertig sich Menschen, vor allem im Gebirge, in Gefahr begeben, dann rechtfertigt das manche abschreckende Namensgebung vielleicht auch rückwirkend. 

Und doch bin ich unglücklich darüber, dass der Teufel so viel Raum in der Naturbegegnung einnimmt. Ich befürchte nämlich, dass es ein Spiegel der mitteleuropäischen Seele und Symptom einer allgemeineren Fixierung auf das Böse sein könnte – und der Unfähigkeit, vor lauter Gegrusel noch Gott und das Gute in der Wildnis zu erkennen. Jedenfalls außerhalb von risikobefreiter Kulturlandschaft, ihrem domestizierten Tierbestand und den sakralen Räumen, die von Menschenhand errichtet wurden. Aber Gott ist auch überall da draußen. Den Teufel bringen wir selber mit – in Gestalt unserer Ängste, blinden Flecken und dem merkwürdig antagonistischen Blick auf die Schöpfung, den unsere Kultur hervorgebracht hat. 

Jetzt wäre die Zeit, ihn endgültig abzulegen.

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Explosive Gewohnheits-Rechte

Foto: Marius Matuschzik on unsplash.com

Ein Erlebnis vom vergangenen Sonntag geht mir nicht aus dem Kopf: An einer Tankstelle steht jemand draußen vor dem Kassenhäuschen und raucht eine Zigarette. Als er fertig ist, geht er hinein, und ich erkenne: Das ist einer der Angestellten. Er hat nicht etwa hinter dem Kassenhäuschen geraucht, sondern davor – auf der Seite, wo die Zapfsäulen stehen und reger Betrieb herrscht. Wohlgemerkt: an einem heißen Sommertag!

Die Person, die eigentlich darauf achten sollte, dass niemand an dieser Tankstelle raucht, steht da in aller Öffentlichkeit und tut genau das, was sie verhindern soll. Sie kann es tun, weil es eine Art Gewohnheitsrecht für Raucher gibt: Raucher „dürfen“ einfach mal so ihren Arbeitsplatz für ein paar Minuten verlassen und sie „dürfen“ ihre Kippen auch einfach so in die Gegend werfen, obwohl die Filter hochgradig umweltschädlich sind.

Und so ist die Szene eben auch ein Bild für den Zustand unserer Gesellschaft in der anbrechenden Klimakatastrophe: Ausgerechnet die Leute, die verhindern sollten, dass wir uns selbst und andere gefährden, nehmen sich demonstrativ die Freiheit, Regeln und Verpflichtungen, denen sie (wie wir alle) unterliegen, zu ignorieren. Und sie können es, weil es quasi ein Gewohnheitsrecht auf fossiles Heizen und unbeschränkte Automobilität gibt, das keine Regierung bisher ernsthaft anzutasten wagte. Für die stetig zunehmende Anzahl der Populisten in Bund und Land zählt dieses Gewohnheitsrecht mehr als jedes demokratisch beschlossene Gesetz.

Ich habe mir die Tankstelle gemerkt. Sie ist ein gefährlicher Ort, den ich künftig meiden werde. Leider lässt sich das im Blick auf das größere Problem des globalen Klimakollapses nicht machen. Das heißt: Mit den Gefährdern in der Politik müssen wir uns anlegen. Und mit denen, die gerade so wütend und beleidigt auf ihrem explosiven Gewohnheitsrecht beharren, auch.

In dieser Kombination liegt das eigentliche Problem: Menschen reagieren allergisch bis aggressiv, wenn es um Gewohnheitsrechte geht. Sie in Frage zu stellen, wird in aller Regel als persönlicher Angriff gedeutet. Und wenn diese Wut dann noch bestärkt wird durch lautstarke Kulturkämpfer aus der rechten Presse- und bürgerlichen Parteienlandschaft, dann brauchen alle, die Kritik am Verhalten dieser Gewohnheits-Rechten üben, schon ein recht dickes Fell, um das heil zu überstehen.

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Benzinmädchenrechnungen

Ich musste tanken und landete bei der Filiale einer britisch-niederländischen Firma. Dort wurde der Sprit für 1,54.9 angeboten und die freundliche Kassiererin fragte mich, ob ich die Umweltprojekte des Ölmultis unterstützen und dafür 1,1 Cent Aufpreis zahlen würde.

Ich war kurz sprachlos und entgegnete dann, dass ich mich ungern an Greenwashing beteilige. Die Angestellte war damit nicht einverstanden und drückte mir einen Flyer in die Hand – das seien ganz wunderbare Projekte. Mit den 1,1 Cent, so ist da zu lesen, würde das CO2 ausgeglichen, das ich bei der Weiterfahrt mit dem gekauften Kraftstoff emittiere. In Peru und Indonesien wird dafür Wald geschützt oder aufgeforstet.

Nun wurde Shell bekanntlich im Mai von einem Gericht in Den Haag verpflichtet, seine Emissionen massiv zu senken. Also der Konzern, nicht seine Kund:innen. Die 1,1 Cent könnte, ja müsste der Energieriese doch locker selbst drauflegen anstatt dafür die Kundschaft anzubetteln. Damit wird außerdem das Thema Freiwilligkeit, meistens ja eine gute Sache, ad absurdum geführt.

Photo by Marc Rentschler on Unsplash

Zweitens sind die Kompensationsprojekte hoch umstritten und verfehlen oft die angekündigte Wirkung. Sie dienen häufig als Rechtfertigung, überholte und schädliche Geschäftsmodelle weiterzuführen und den Status Quo zu erhalten. Den können wir uns allerdings nicht mehr leisten. Bernd Ulrich bilanzierte jüngst in der Zeit die groteske Augenwischerei im Bundestagswahlkampf: „Überall wurden in diesem Sommer klimapolitische Maßnahmen mit dem verglichen, was man schon hat, und nicht mit dem, was man bekommt, wenn man sie unterlässt.“

Drittens liegen nämlich die wahren Folgekosten fossiler Brennstoffe deutlich höher als in den meisten Modellen veranschlagt. Ein Liter Benzin entspricht in etwa 2,37 kg CO2. Wenn das mit 1,1 Cent kompensiert wird, sind das pro Tonne 4,64 €. Die tatsächlichen Kosten der Treibhausemissionen, wirtschaftliche Schäden in den kommenden Jahren (so lange das Abgas in der Luft ist) eingerechnet, werden aktuell auf 3.000 € pro Tonne geschätzt, das ist mehr als 600mal so viel.

Shell möchte mich also für dumm verkaufen. Es ist ja auch zu verlockend, sich so billig ein reines Gewissen zu verschaffen. Ich werde das Auto also wann immer möglich stehen lassen. Und dann bei den selteneren Fahrten eben dort tanken, wo ich mich wenigstens nicht auch noch über solche plump-dreisten Manöver ärgern muss.

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Adieu Erlangen

Vor 45 Jahren zogen meine Eltern mit uns nach Erlangen. Knapp die Hälfte dieser Zeit wohne ich – ohne Eltern freilich – im Röthelheimpark. Länger als an irgendeinem anderen Ort. Unsere Kinder sind hier groß geworden und von hier ausgeflogen. Die ganze Gegend ist aufgeladen mit Erinnerungen. Weggezogen und wieder hergezogen bin ich schon mal für ein paar Semester, auch das gehört in Erlangen dazu. So seßhaft zu sein hatte ich eigentlich gar nicht vor. Gestern saßen wir bis zum frühen Morgen mit den Nachbarn zusammen an einer langen Tafel. Und haben noch einmal gespürt, wie viel Verbindung über diese zwei Jahrzehnte gewachsen ist, in denen wir gemeinsam älter geworden sind. Und wie kostbar und selten so etwas ist.

Nun lege ich viele Alltagswege zum letzten Mal zurück. Ich mag die kurzen Entfernungen in die Stadt und in den Wald. Die kleinen Dörfer, die man von hier aus so schnell erreicht und deren Biergärten sich auf uns Stadtmenschen eingestellt haben. Mit diesem „das letzte Mal“-Blick bin ich gerade unterwegs: Was macht diese Orte einzigartig? Wie werde ich sie im Gedächtnis behalten? Wie wird es sich anfühlen, später als Besucher hier wieder vorbeizukommen?

Das Reisebüro im nahen Ladenzentrum verquickt derzeit das Reisen mit der Identität: Erst wenn ich hier rauskomme, bin ich angeblich wirklich ich. Bei Descartes hat wenigstens noch der Zweifel das Subjekt ausgemacht, hier heißt es lapidar: „Ich düse, also bin ich.“

Also – ich muss sicher nicht irgendwo anders hin, um endlich 100% ich zu werden. Wer ich bin, das hat mit den Menschen zu tun, mit denen ich mein Leben geteilt habe und sie mit mir. Und jetzt freue ich mich darauf, im Nürnberg Osten noch mehr Leben teilen zu können als bisher. Wird mich das verändern? Vermutlich, sonst wäre es kein echtes Teilen. Auf den meisten Alltagswegen den Leuten im Stadtteil zu begegnen, auf spontane Besuche neben den geplanten. Es liegen anspruchsvolle Aufgaben vor uns, Konzepte und Gebäude müssen runderneuert werden. Vieles, was durch die Pandemie auf Eis lag, muss wieder behutsam in Gang gesetzt werden. Aber die Stimmung in der Auferstehungskirche ist gut im Sommer 2021. Ein passender Zeitpunkt, den privaten Fuß nachzuziehen und den Schritt in die große Stadt zu Ende zu gehen. Und mit einem „das-erste-Mal-Blick“ dort den Alltag zu

In den kommenden Tagen packe ich mein Leben in hundert oder mehr Kartons. Den nächsten Blogpost werde ich dann schon als Nürnberger schreiben. Falls Ihr dann den Eindruck habt, dass ich anders klinge, wird es wohl daran liegen.

Habt einen schönen Sommer und bleibt gesund!

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Bond muss warten

Lieber Olli,

das letzte Mal, als wir beide zusammen weg waren, haben wir im Cinecitta den neuen „Terminator“ angeschaut. Noch während der Werbung hast Du perplex festgestellt, dass ich keinen der bisherigen Filme gesehen hatte. Die erste halbe Stunde hast Du dann intensiv kommentiert und im späteren Verlauf immer wieder Erklärungen und Informationen eingestreut, damit ich das Plot (oder heißt es „den“ Plot?) richtig verstehe. 

In der Episode steckt so viel über Dich drin: Deine Liebe zur Popkultur zum Beispiel. Als Du im Juli in die Klinik kamst und heftige Schmerzmittel nehmen musstest, hast Du ständig Anspielungen auf Breaking Bad gemacht (noch eine Leerstelle in meiner Blockbuster- und Kultserien-Kenntnis!). Und mir erzählt, dass wir, wenn Du wieder rauskommst, uns den neuen Bond angucken müssen. Und dann ist da ja noch Deine Faszination für Game of Thrones. Großes Drama, epische Kämpfe, Leben und (Helden)Tod in immer neuen Abwandlungen. Der kleine Junge in Dir kann mitfiebern, der Intellektuelle ironisch kommentieren, aber nie einer ohne den anderen.

Vom Kommentieren ist der Schritt nicht weit zum Erklären, Zeigen, Teilen. Spricht da der Schulmeister, der mir einen Zusammenhang erschließt (selbst wenn es nur eine Phantasiegeschichte ist), oder der Freund, der nicht will, dass ich eine gute Pointe verpasse, oder auch hier wieder beide?

Die Freude am Zeigen und Erklären kenne ich gut. Pfarrer und Lehrer (zumal Lehrer an meiner alten Schule) haben ja so einiges gemeinsam. Ich hätte so gern mit Dir über das Buch geredet, das ich gerade lese („Deutschland – ein Wirtschaftsmärchen“). Aber es spielte keine Rolle mehr. In den letzten Tagen eines Menschenlebens ist selbst Weltpolitik plötzlich unwichtig. Es geht nur noch um Liebe und Freundschaft, um Vertrauen und Vergebung, und um Hoffnung.

Es gibt ein wenig bekanntes Lied aus Stings Musical „The Last Ship“: So To Speak. Pater o’Brian ist Seelsorger der Arbeiter in Newcastle, deren Werft vor dem Aus steht. Aber noch bevor es so weit ist, wird er sterben. Er beschreibt die Gespräche mit den Ärzten über Chemo und Bestrahlungen und warum er ewiges Leben, das mit technischen Mitteln erreicht wird, nicht erstrebenswert findet:

Well ye can’t fault the science, though the logic is weak,
Is it really an eternal life we should seek?
That ship has already sailed… So to speak.

Und dann singt er von der Liebe, und das hat mich so sehr an unsere paar Begegnungen am Krankenbett erinnert:

Our mission is more than a struggle for breath,
For a few extra rounds in a fight to the death.
When our mission is love, and compassion and grace,
It’s not a test of endurance, or a marathon race.

For love is the sabre, and love is the shield,
Love is the only true power we wield,
An eternal love is all ye should seek,
That ship will be ready to sail… So to speak.

Du hast gestern zum Abschied meine Hand genommen und gesagt: „Ich mach jetzt den Scout. Ich geh schon mal vor.“ Ich habe geantwortet, dass ich heute wiederkommen wolle (und gedacht, ich könne Dir das noch sagen, was ich jetzt aufschreibe). Nun hat Dein Schiff doch schon abgelegt.

Du hast stets ebenso verschmitzt wie ernsthaft am frommen Firniss auf Gottesbildern und Bibelauslegungen kritisch herumgezupft. Religiöses Pathos, zu dick aufgetragene Gewissheit und vor allem Scheinheiligkeit war Deine Sache nicht. Im Grunde warst Du immer auf der Suche nach dem, was echt ist: „Gott war in Christus und versöhnte die Welt“. Jetzt siehst Du von Angesicht zu Angesicht, während wir noch ein Weilchen rätseln und diskutieren werden.

Auf den Familienfesten der letzten >25 Jahre warst Du zuverlässig in der lustigsten Ecke zu finden. Wenn wir anderen also irgendwann nachkommen, schauen wir einfach nach dem Tisch, an dem am lautesten gelacht wird. Und erzählen einander von unserer Reise bei einem Glas Pinotage. Mag auch vieles über die neue Welt unbekannt sein, aber dass es dort Wein geben wird, scheint mir unumstößlich.

Bond muss jetzt erst mal warten. Dein Platz im Kino, auf dem Sofa, im Gottesdienst bleibt leer und wir müssen uns erst noch daran gewöhnen. Das wird nicht leicht. Aber die Leere erinnert an die Liebe. Und die Liebe hört nie auf. Sie kann wehtun, aber sie kann auch heilen. Sie kann loslassen, um wieder zu finden oder sich finden zu lassen.

Hasta la vista, Olli.

Sail on, Lieblingsschwager!

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Weiter provisorisch

Seit zwei Jahren bin ich nun Pfarrer in Zerzabelshof (kurz: „Zabo“). Es ist reichlich Wasser den Goldbach hinabgeflossen. Das erste Jahr war vom Ankommen geprägt, ich habe den Stadtteil, die Menschen und die jüngere Geschichte der Kirchengemeinde kennengelernt. Und weil wir kurzfristig überbesetzt waren, war mein Aufgabenbereich auch nicht klar definiert. Das war nicht weiter schwierig, weil meine Frage von Anfang an war: Was braucht diese Gemeinde und wo ist Gott gerade am Werk?

Vor einem Jahr dann normalisierte sich die Personalsituation. Ein interner Stellenwechsel brachte alle Aufgaben der zweiten Pfarrstelle mit sich und verschob den Schwerpunkt Richtung Konfirmanden- und Jugendarbeit und der Verantwortung für das Kinder- und Jugendhaus „Arche“. Zum Glück hatte ich den Großteil der erforderlichen Fortbildungen für Frischlingspfarrer schon im ersten Jahr hinter mich gebracht. Ich brauchte dann einige Wochen, um mich zu orientieren, dann liefen die Dinge ganz erfreulich an.

Mitten in diesen Neubeginn fiel Corona – und machte manches umständlich und anderes unmöglich. Viele Wochen herrschte in dem Haus, in dem sich von Miniclubs über Mittagsbetreuung und Konfiguppen bis zum Repair-Café alle möglichen Gruppen treffen, ungewohnte Stille, die lediglich von einem Wespenvolk unterbrochen wurde. Im Garten war es so ruhig, dass zwei Feldhasen ihn zur Spielwiese erkoren.

Apropos Spielwiese(n): Nach einigen Experimenten mit dem Internetauftritt der Kirchengemeinde, im Dekanat und mit den Rundfunkbeauftragten, als regionaler Jugendpfarrer und neuerdings auch Umweltbeauftragter bin ich zu Beginn des dritten Jahres nun dabei, all die losen Enden wieder aufzunehmen. Nächste Woche geht es mit den verschobenen Konfirmationen los. Wenn wir dann den Kollegen Uwe Bartels im Herbst verabschieden, wird es, bis im Frühjahr oder Sommer ein(e) Nachfolger(in) kommt, wenig Langeweile geben. Aber in einer Gemeinde mit so vielen motivierten und engagierten Leuten lässt sich das bewältigen.

Ich werde nun immer öfter gefragt, ob ich schon weiß, wie es nächstes Jahr weitergeht. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht und es wird sich auch erst zum Ende des Probedienstes entscheiden. Also denke ich nicht darüber nach, sondern konzentriere mich auf die Arbeit der nächsten Monate und versuche, gut hinzusehen: Was wird gebraucht, wo regt sich geistlich etwas, wie halten wir Schritt mit den vielen Veränderungen?

Nächsten Sommer ziehen wir dann Bilanz. Bis dahin wohnen wir weiter in Erlangen, und ich reihe mich weiter ein ins Heer der Berufspendler der Metropolregion. Es bleibt alles etwas provisorisch. Aber für den Augenblick ist das ganz in Ordnung. Ich improvisiere gerne. Wann immer ich Künstler und Rebellen treffe, geht es mir gut.

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Kann / soll / möchte ich „mir treu bleiben“?

Gelegentlich begegne ich Leuten, die ich lange nicht gesehen habe. Manchmal kannten wir uns gut, manchmal nur flüchtig. Wenn man einen Weile nichts von einander gehört hat, ist es ja interessant, ob und wie sich der/die andere verändert hat. So gesehen kann die freundliche Aussage „bleib, wie du bist“ oder „immer noch ganz der alte“ ein recht zwiespältiges Kompliment sein.

Am meisten staune ich tatsächlich über die, die auch nach Jahrzehnten noch genau dieselben Ansichten und Einstellungen haben. Dann frage ich mich, ob die Veränderungen in der Welt und die Begegnungen im Laufe des Lebens spurlos an ihnen vorübergegangen sind und sie die diversen Disruptionen schlicht nicht zur Kenntnis genommen haben, oder ob sie mit den Landkarten von früher auch nach all den tektonischen Verschiebungen noch leidlich navigieren können.

In solchen Situationen höre ich manchmal den Satz: „Sie/er ist sich treu geblieben“. Dann frage ich mich, ob das so stimmt: Bleibe ich mir treu, indem ich bestimmten Ansichten treu bleibe (statt „mit der Zeit zu gehen“, wie es auch manchmal heißt)? Oder bleibe ich mir treu, indem ich meine Ansichten verändere bzw. durch Ereignisse und Einsichten verändern lasse? Sind beide Wege am Ende gar gleichwertige Arten, sich selbst treu zu bleiben? Oder haben die, die auf bestimmten Positionen verharren, eher das Bedürfnis, einer bestimmten Idee (Dogma?) treu zu bleiben, einer darauf gegründeten Gemeinschaft (Kirche?) anzugehören? Ist ihnen der Frage, ob sie sich selbst treu bleiben, also gar nicht so wichtig?

Wenn ich über mich selbst und andere nachdenke, für die das Leben eine Reise voller Veränderungen ist, Glaube ein Wachsen und sich Wandeln, Nachfolge ein Ablegen bestimmter Dinge und ein Aufnehmen anderer, und der Gott der Bibel ein nomadischer Gott, ein Nichtsesshafter, dann steckt ja auch darin eine Idee, der wir treu bleiben. Freilich sehen die meisten das nicht als etwas an, das außerhalb des Selbst liegt. Obwohl es mehr und größer ist als das individuelle Selbst, fühlt es sich eher wie ein innerer Kompass an.

Photo by Jannes Glas on Unsplash

Ab und zu gibt es auf den verschlungenen Pfaden des Lebens Begegnungen, wo sich solch ein gegenseitiges Erkennen und Verstehen ereignet. Wieder ist es nicht unbedingt der Inhalt der Erfahrungen und Einsichten, der kongruent sein muss, sondern die fragende und suchende Haltung dabei. Und die Bereitschaft, über Grenzen und Selbstverständlichkeiten hinaus zu denken.

In solchen Momenten fällt mir das Familienwappen meines Großvaters ein. Darauf steht „Immer Vorwärts„. Das wirft eine Menge Fragen auf, aber es spricht eben auch eine ausgeprägte Sehnsucht an: Wir sind noch nicht angekommen. Alles ist vorläufig – ein Provisorium, das wir wieder aufgeben werden. Es ist noch nicht die Zeit, sich niederzulassen und zur Ruhe zu setzen. In dieser heiligen Unruhe (die etwas anderes ist als ein Getriebensein!) bleibe ich mir gerne treu.

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Anfälliger als wir dachten

Als ich heute laufen ging, war ich viel zu warm angezogen. Die letzten Tage waren sonnig, aber da wehte noch ein eisiger Wind und ich hätte mich um ein Haar erkältet. Und da sind wir schon bem Problem – es gibt ja keine unschuldige Erkältung mehr, sondern jeder Huster steht unter Seuchenverdacht. Er könnte das erste Symptom einer Krankheit sein, die (bei schwerem Verlauf) für mich gefährlich sein könnte oder mich zur Gefahr für andere Menschen macht.

Mir wird meine Anfälligkeit gerade sehr bewusst. Die mag geringer sein als die manch anderer Menschen mit höherem Infektionsrisiko. Und doch – das Jesuswort aus der Bergpredigt „Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“ ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf. Jetzt wo so viel still steht und zugleich so viel von Krankheit und Tod die Rede ist, rückt diese Anfälligkeit und Verletzlichkeit allen Lebens, auch meine eigene, mit Macht ins Bewusstsein. Ich denke an diese Zeilen von Sting, auch wenn es gerade nicht regnet draußen:

On and on the rain will fall
Like tears from a star like tears from a star
On and on the rain will say
How fragile we are how fragile we are

Eine ganz ähnliche Melancholie findet sich auch in dem Klassiker von Kansas aus dem Jahr 1979, sie erinnert nebenbei ein bisschen an das „alles ist eitel“ aus dem Buch Prediger:

Now don’t hang on
Nothin‘ last forever but the earth and sky
It slips away
And all your money won’t another minute buy
Dust in the wind
All we are is dust in the wind

Diese Anfälligkeit hat einen gewissen Schock verursacht. Vor ein paar Wochen war Covid-19 noch weit weg, dann waren es Einzelfälle, jetzt ist es potenziell überall. Weil es unsichtbar ist, weil jede(r) es haben und verbreiten kann, auch wenn er sich kerngesund fühlt, weil es keine Impfung gibt und die Pandemie so unkontrollierbar ist, legen wir alles, was geht, auf Eis.

Wir werden wieder sensibel für unsere Anfälligkeit. Die Anfälligkeit des Organismus für das Virus, die Anfälligkeit der Emotionen angesichts ungewisser Umstände, die Anfälligkeit der Systeme: Gesundheitswesen, Börsenkurse, Arbeitsmarkt, Bildung, Kirchen, sogar der Nationalstaaten, von denen derzeit der größte Teil des Krisenmanagements ausgeht. Hartmut Rosa spricht im aktuellen Philosophiemagazin von der „typisch modernen Logik, eine unbegrenzte Herrschaft über die Welt auszuüben.“ Die kommt uns gerade abhanden. Ich bin nicht mehr Herr meiner Welt, wir sind nicht mehr die Herren unserer Welt.

Die Wahrheit ist: Wir waren es nie. Wir hatten nie die vollständige Kontrolle. Das große Projekt der Moderne (seit dem Erdbeben von Lissabon 1755) hat nur Teilerfolge gebracht und an anderen Stellen die Risiken vergrößert. Die Folgen der Klimakatastrophe mögen zeitlich noch weiter weg liegen, aber sie werden nicht minder heftig ausfallen.

Covid-19 und seine Folgen sind nicht einfach eine Bedrohung von außen, sondern aus dem System heraus entstanden. Wenn wir nun vor leeren Supermarktregalen stehen oder uns darum sorgen, ob unsere Verwandten bei einer Infektion überhaupt behandelt werden, sollten wir begreifen, wie existentiell krisenanfällig der Kapitalismus ist und wie sehr die ökologische und die soziale Frage zusammenhängen.

Kathrin Hartmann im Freitag

Der Kontrollverlust wird uns noch lange und in vielen unterschiedlichen Formen beschäftigen. Ein neues Selbstbild wird dazu nötig sein: Wir sind nicht die Herren der Welt, sondern verletzliche, endliche Geschöpfe. Wir sind anfällig und angewiesen auf die Liebe und Fürsorge anderer. Und auf einen achtsamen, fürsorglichen Umgang mit den menschlichen und außermenschlichen Mitgeschöpfen.

Etwas weniger melancholisch als Sting und Kansas drückt sich diese Erkenntnis bei Rich Mullins aus. Im Refrain heißt es

We are frail, we are fearfully and wonderfully made
Forged in the fires of human passion
Choking on the fumes of selfish rage
And with these our hells and our heavens, so few inches apart
We must be awfully small and not as strong as we think we are

Rich Mullins

Ich denke, es ist völlig in Ordnung, dieser Melancholie ein bisschen Raum zu geben. Sie muss nicht, aber sie könnte heilbar sein. Auch der Abschied von einer Illusion ist mit Trauer verknüpft. Aber es gibt schon jetzt – schon immer! – eine große Gruppe von Menschen, die sich ihres Angewiesenseins auf andere bewusst ist und darüber nicht schwermütig wird: Kinder.

Jesus – Kinder – Gottes neue Welt… da war doch was?

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Distanz und Gegenwart: Clips aus dem Corona-Chaos

Das analoge soziale Leben (und mit ihm das noch deutlich analogere kirchliche Leben) steht momentan still. Die Fastenzeit hat einen ganz anderen Charakter angenommen, es geht nicht mehr um Schokolade, Fleisch oder Alkoholverzicht.

Die Beschäftigung mit dem Leiden – der Kranken, des Pflegepersonals, der Geflüchteten auf Lesbos, der Künstler und (Klein)Unternehmer, der Alleinlebenden, der psychisch Kranken, der gestrandeten Urlauber, der Familien, in denen es gerade schwierig ist (um nur ein paar Beispiele zu nennen…) – ist sehr präsent.

Ich habe, wie viele andere Kolleg*innen nah und fern (Geographie spielt da ja auf einmal eine ganz untergeordnete Rolle) in den letzten Tagen ein paar kleine Beiträge aufgenommen und hoffe, dass sie alle, die es in dieser gänzlich ungewohnten Lage brauchen können, ein bisschen aufmuntern und so ein bisschen Verbindung zu halten. Lasst gern etwas von Euch hören, entweder als Kommentar oder schickt mir eine Nachricht auf anderen Kanälen.

Passend zu manchem, was mir im Kopf herum ging, hat Hartmut Rosa diese Woche dem Philosophiemagazin gesagt:

Der räumliche Horizont beschränkt sich auf den Umkreis der Wohnung, zeitlich denken wir nur noch für ein paar Tage voraus, denn wer weiß schon, was in zwei Wochen sein wird? Das aber ändert die Art und Weise unserer Weltbeziehung: Auf einmal sind wir nicht mehr die Gejagten, wir kommen aus dem Alltagsbewältigungsverzweiflungsmodus, aus der Aggressionshaltung gegenüber der Welt und dem Alltag heraus. Wir haben Zeit. Wir können plötzlich hören und wahrnehmen, was um uns herum geschieht: Vielleicht hören wir wirklich die Vögel und sehen die Blumen und grüßen die Nachbarn. Hören und Antworten (statt beherrschen und kontrollieren): Das ist der Beginn eines Resonanzverhältnisses, und daraus, genau daraus kann Neues entstehen.

Hartmut Rosa

Und Slavoj Zizek schreibt dort, auch sehr passend: „Erst jetzt, da ich vielen, die mir nahestehen, aus dem Weg gehen muss, erfahre ich voll und ganz ihre Gegenwart, ihre Bedeutung für mich.“

und dazu gehört als Soundtrack noch:

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Plakatives zur Kommunalwahl

Das Plakat Erlanger CSU zur Kommunalwahl am kommenden Sonntag passt doch wie die Faust aufs Auge in diesen Corona-Tagen, in denen nicht alle, aber erstaunlich viele sich selbst die Nächsten sind. Tage, in denen besorgte Mitbürger Klopapier und Nudeln hamstern, während aus den Kliniken Desinfektionsmittel und Atemmasken geklaut werden. Und die CSU verspricht mir Folgendes:

Kann man schwer unkommentiert stehen lassen, das fanden offenbar auch andere…

Eine Stadt, in der sich alles um mich dreht: Das Paradies aller Narzissten, Monaden und Egozentriker. In der Praxis zu gleichen Teilen asozialer Albtraum und absurde Ansage: Keine Zugeständnisse, keine Kompromisse, keine Rücksichtnahme, keine Verantwortung für andere. Anders lässt sich der Slogan kaum verstehen.

Nur: So kann ja kein Gemeinwesen existieren. Der Appell ans Reptilienhirn ist auch nicht ansatzweise visionär. Die FDP schreibt „Eine Chance für die Vernunft“ auf ihre Plakate und zielt ein paar Etagen höher. Aber wer weiß, ob damit nicht wieder nur das Vernunftmonopol der Lindner’schen Profis gemeint ist?

Immerhin gibt es klare – und ja, vernünftige – Alternativen: Das Motto „Eine Stadt für alle“ des amtierenden OB kommt vielleicht ein wenig idealistisch daher, aber die Richtung stimmt. Und die Grünen formulieren etwas nüchterner: „Für ein offenes Miteinander. #sozialestadt“.

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Verschnaufpause

Heute musste man im Wald weder Wind- noch Schneebruch befürchten, also ging ich in der Nachmittagssonne eine Runde laufen. Die Forstverwaltung hat im Herbst ein paar neue Tümpel im Buckenhofer Forst angelegt, die sich nun zum ersten Mal überhaupt mit Wasser füllen. Der Februar 2020 war (so die Werte für Nürnberg, Erlangen hat noch etwas mehr Niederschlag abbekommen) 4,4 Grad zu warm, aber er brachte auch 267% der üblichen Regenmenge. Nach zwei sehr trockenen Jahren ist das ein bisschen Rückkehr zur Normalität (falls man davon überhaupt noch reden kann).

Photo by Gary Bendig on Unsplash

Ich stand eine Weile am Ufer und schaute zu, wie sich Himmel und Sonne still und friedlich im Wasser spiegelten. Ein Entenpärchen hatte den Ort entdeckt und sich auf dem Wasser niedergelassen.

Während ich da stand, merkte ich, dass ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig über den Sonnenschein freuen konnte. Nach dem ausgiebigen Regen ist er erst einmal keine Bedrohung für die angeschlagene Vegetation. Und die Erinnerung an Staub und Hitze der beiden letzten Sommer ist auch ein bisschen verblasst.

Es war eine schöne Verschnaufpause. Und doch wird es wohl nur eine Pause bleiben, denn die Erhitzung des Planeten hat schon so dramatisch zugenommen. Zurückdrehen lässt sie sich nicht, bestenfalls verlangsamen. Nicht nur die Bolsonaros, Trumps und Morrisons dieser Welt, sondern auch die Scheuers, Lindners und Altmeiers, die Bleifüße, Kreuzfahrer und Vielflieger hierzulande und anderswo werden sich allerdings so leicht umstimmen lassen.

Als ich mich zuhause hinsetzte, las ich die folgenden Sätze zum Leben mit und nach dem Klimawandel. Sie klingen wie eine Anleitung für die Fastenzeit, allerdings mit einem Zeithorizont, der sieben Wochen weit überschreitet:

So trivial es klingt, es wird wichtig sein, zu lernen, mit dem Wenigen, knappen Lebensmitteln und beschränkten Mitteln des täglichen Bedarfs klarzukommen. Es wird darauf ankommen, einfachste Techniken zu beherrschen, mit denen unsere Vorfahren ihr Leben gemeistert haben, handwerkliche Fähigkeiten, Basis-Techniken des Überlebens, Hilfe in der Nachbarschaft, Zusammenhalt im Freundeskreis und in der Familie.

Jörg Friedrich in telepolis

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Halbzeit

Vor 18 Monaten habe ich den Dienst an der Auferstehungskirche angetreten. Nun ist mein Arbeitsverhältnis entfristet und die offizielle dienstliche Beurteilung eingetütet. Ein Meilensteinchen also…

Photo by Agê Barros on Unsplash

In diesen 18 Monaten habe ich eine Menge herzlicher und engagierter Menschen kennengelernt: Gemeindeglieder, Mitarbeitende, Kolleg*innen. Das erste Jahr über waren meine Arbeitsbereiche kaum definiert (zu tun gab’s dennoch genug). Zum Herbst habe ich dann quasi intern die Stelle gewechselt, nun steht das Normalprogramm im Vordergrund.

Neben dem, was im kirchlichen Alltag eben auch getan werden muss (Schule, Sitzungen, Organisatorisches), tun sich hier und da kreative Spielräume auf. Die Atmosphäre in der Kirchengemeinde zwischen Dutzendteich und Tiergarten, Clubgelände und Businesstower hat sich verbessert, sagen etliche. Manches Neue ist gewachsen, und das mitzuerleben ist schön. Viele Leute haben dazu beigetragen; ich habe eigentlich nur versucht, möglichst wenig im Weg zu stehen.

Mittlerweile habe ich eine Vorstellung davon, wie diese Gemeinde tickt, was sie braucht und wohin es sie zieht. Die nächste größere Veränderung steht an, wenn mein Kollege im Herbst in Pension geht. Dann wird es darum gehen, den Laden ordentlich zusammenzuhalten. Und wenn dann irgendwann im nächsten Jahr sein(e) Nachfolger*in da ist, sehen wir weiter.

Am vergangenen Sonntag haben wir im Gottesdienst den Propheten Ezechiel gelesen, der (in einer Vision) eine Schriftrolle essen sollte. Dazu haben wir während der Predigt Esspapier verteilt und alle, groß und klein, haben an ihrem Blatt geknabbert, während sie weiter zuhörten. So intensiv hat es im Gottesdienst schon lange nicht mehr geknistert.

Von mir aus darf es feste weiterknistern…

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Zu viele Engel

Ein paar Tage nach Weihnachten flatterte mir ein Text über Engel auf den Tisch – noch einer! Diese Engelbande hatte mich schon den ganzen Advent über genervt mit ihrer harmonischen Harmlosigkeit. 

Engel dichten die Lecks der Wohlstandsgesellschaft ab: Sie verglitzern die Sinn-Lücken des Überkonsums, indem sie so etwas simulieren wie Transzendenz, Himmel und Heiligkeit. Und das ganz ohne bohrende Fragen. 

Sie dekorieren die Sicherheitslücken unseres Lebens in der Gestalt von Schutzengeln. Sie helfen uns zu vergessen, wie endlich und verwundbar wir sind. So können wir angesichts all der Kranken, der Katastrophenopfer, der Toten, der unschuldig Leidenden immer noch süß schlafen.

Photo by Zoltan Tasi on Unsplash

Diese Engel sind eine Art persönlicher himmlischer Butler. Sie tragen ihren Schützling auf Händen und packen ihn in Watte – der Traum aller Helikoptereltern! Sie sagen nichts mehr über Gott und alles über uns. Wir fühlen uns mit Engeln ja so viel wohler. Sie verlangen nichts von uns, sie durchkreuzen keine Pläne und sie fragen nicht „Wo ist dein Bruder?“

Vielleicht hat Jesus ja deshalb Engel-Eskorten abgelehnt, sich lieber die Hände schmutzig gemacht und sich anspucken lassen.

Warum sagen die echten Engel eigentlich als erstes immer „Fürchte dich nicht?“ Weil sie im nächsten Satz von Gott reden, anstatt unsere Bestellungen aufzunehmen. Und weil es ihrem Gegenüber gerade dämmert, dass es mit dem ruhigen Leben und geflegten Händen jetzt vorbei ist. 

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