Die verpasste Chance

Hin und wieder habe ich Auslegungen der Geschichte vom „reichen Jüngling“ (Markus 10,16-31) gelesen, die es irgendwie schafften, den Text völlig auf den Kopf zu stellen. Verständlich, denn wer möchte schon in einer Gesellschaft, die sich als wohlhabend und im globalen Vergleich durchaus auch als „reich“ versteht, seinen Zuhörern oder Lesern ein hartes Urteil zumuten.

Überhaupt nicht mehr klar wird dabei meistens, warum Jesus den Reichen auffordert, sein Vermögen (sprich: Grundbesitz, anders konnte man größere Beträge damals kaum anlegen) zu verkaufen und das Geld „den Armen“ zu geben und ihm nachzufolgen, wenn doch der Reichtum kein prinzipielles Problem ist, sondern nur die Tatsache, das dieses Individuum (das eher zufällig reich war, auch Arme hängen ja an Hab und Gut) etwas zu sehr an seinem Besitz zu hängen schien.

Richard Horsley, den ich nun schon mehrfach zitiert habe, verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition des mosaischen Bundes, die das Horten von Besitz, das Nehmen von Zinsen, Enteignungen von ererbtem Land verbot und auf die Rückgabe verpfändeten Gutes und den Erlass von Schulden drängte. Jesus bezieht sich, während er durch das ländliche Galiläa zieht, auf diese Traditionen. Bergpredigt und Feldrede können sogar als Erneuerung und Aktualisierung des mosaischen Bundes und Gesetzes gelesen werden (die Regeln der Essener hatten einen ähnlichen Charakter).

Anstößig ist der Reichtum des jungen Mannes nämlich deswegen, weil er sich der Armut seiner Nachbarn verdankt. Reichtum ist insofern betrügerisch, als er auf der Ausbeutung anderer beruht, die als Tagelöhner arbeiten müssen oder von ihrem Land vertrieben werden. Und Jesus ersetzt das „begehren“ in seiner Aufzählung der Gebote durch „betrügen“. Alle Beteuerungen des Reichen, er habe das Gesetz doch gehalten, werden durch die Weigerung widerlegt, den (in Jesu Auslegung des Willens Gottes) unrechtmäßigen Reichtum aufzugeben.

Indem er sich als tadellosen Anhänger des Gesetzes darstellt, betrügt der Mann sich selbst und seine Umgebung. Und er steht mit dieser Behauptung im Gegensatz zu dem, was Jesus die Dorfgemeinschaften lehrt: den gegenseitigen Erlass von Schulden, die Fürsorge für die schwächeren Glieder der Gemeinschaft, Kooperation und Solidarität. Folglich handelt der nächste Abschnitt (10,32-45) von der politischen Macht, die ebenso wie die wirtschaftliche unter dem Vorzeichen der Herrschaft Gottes steht und – damit untrennbar verbunden – der radikalen Gleichheit aller in der erneuerten Bundesgemeinschaft verpflichtet ist. Heimliche Machtansprüche der Zebedaiden (als wäre der Messias ein Herrscher, der Privilegien an Günstlinge vergibt) werden an dieser Stelle ebenso abgewiesen wie naive Vorstellungen, eine solche soziale Revolution könne vom imperialen System geduldet oder unterstützt werden.

Es ging also nicht um bloße „Almosen“ für die Armen – ein mitleidiges Verteilen von Geld, das anderen für eine begrenzte Zeit am Konsum teilnehmen lässt und irgendwann aufgebraucht ist, ohne etwas verändert zu haben. Damit wäre freilich wenig gewonnen. Doch der Mann hätte sich der messianischen Wirtschaftsrevolution anschließen können. Er hätte mit den einfachen Leuten vom Land eine Art Kibbuz gründen können und damit die nachösterliche Gütergemeinschaft der Urgemeinde vorwegnehmen können, in der Menschen, die am Boden waren, zu einem Leben in Würde ermächtigt werden.

Kein Wunder, dass Jesus – über alle persönliche Sympathie hinaus – traurig ist darüber, dass sein Gegenüber diese Einladung ausschlägt, sein Leben und das vieler anderer zu ändern. Und uns muss zu denken geben, dass Jesus hier keinen Spielraum für Verhandlungen und Kompromisse sieht…

Share

Stress mit bösen Geistern (2)

Ich hatte mich mir Richard Horsleys These befasst, dass sich die Unterdrückung indigener Völker durch technisch und wirtschaftlich überlegene Großreiche oder Kolonialmächte in einer signifikanten Zunahme von Bessenheitsphänomenen äußert. Die eindringenden Dämonen tragen häufig Attribute der Besatzer, der Kampf gegen sie lenkt ab von der demütigenden Aussichtslosigkeit des politischen und militärischen Kampfes, ja sie rettet die betroffenen Gemeinschaften davor, Ihr Leid durch einen Aufstand zu potenzieren.

Horsley zieht eine Parallele zum Neuen Testament. Während Geister und Engel in Israel vor der hellenistischen Zeit kaum eine Rolle spielten und vor allem nicht als eigenständigen Akteure erschienen, ändert sich das in den späten Schichten der hebräischen Bibel wie dem Danielbuch dahingehend, dass zwischen Gott (der damit in größere Ferne rückt) und Welt sich eine Sphäre von Zwischenwesen auftut, in der ein Kampf zwischen Gut und Böse tobt. Spätere jüdische Schriften wie das Henochbuch und die Texte aus Qumran malen das weiter aus. Zeitgeschichtlich fällt das mit der Besatzung durch die hellenistischen Seleukiden (davon berichten die Makkabäerbücher) und später dann durch die Eroberung und brutale Unterwerfung Palästinas durch die Römer zusammen. In Qumran wurde der „geistliche Krieg“ (meine Formulierung) rituell begangen. Deutliche Anspielungen auf Formationen der Besatzerheere trafen dabei auf Elemente der Josua-Tradition und Vorstellungen vom Gotteskrieg.

In den Evangelien finden wir zahlreiche Berichte über Dämonenaustreibungen. Solche Berichte fehlen fast völlig aus der Zeit der Selbständigkeit von Israel und Juda. Die knappen Schilderungen interessieren sich dabei im Vergleich zu vergleichbaren Texten der hellenistischen Literatur überhaupt nicht für die Techniken und Kunstgriffen des Wundertäters, dafür enthalten sie Anspielungen auf den mosaischen Exodus und die Erneuerung Israels.

Unverkennbar ist die politische Dimension (und die Parallele zum kolonialen Afrika) in Markus 5,1-20, in der sich der Dämon als „Legion“ zu erkennen gibt. Der dämonisierte Mann hingegen steht als Symptomträger für die gesamte Bevölkerung. Militärische Sprache prägt auch den weiteren Gang der Erzählung. Die Geister treiben eine Schweineherde in einen wilden Ansturm auf das „Meer“ – der See Genezareth wird zum Symbol für das Mittelmeer, über das die Römer kamen, und das Schilfmeer, in dem die Ägypter untergingen.

Dass es die Leute mit der Angst zu tun bekamen und Jesus baten, die Gegend zu verlassen, hat, so Horsley, weniger mit den tumultartigen Umständen zu tun, sondern mit der Tatsache, dass die Maskierung der wahren Unterdrückung, einschließlich der Ursachen und Folgen, nun zusammengebrochen war und ein anderer Modus Vivendi gefunden werden musste als das gelegentliche Niederringen eines Besessenen mit vereinten Kräften. Deutlich wird in alldem: Das Kommen des Gottesreiches in den Exorzismen Jesu (mit dem „Finger Gottes“) signalisiert auch den Anfang vom Ende der römischen Gewaltherrschaft.

Share

Stress mit bösen Geistern (1)

Wie sind die Exorzismen Jesu zu deuten, von denen die Evangelisten so häufig unter dem Stichwort der „Machttaten“ berichten? Richard Horsley befasst sich im 5. Kapitel von Jesus and the Powers mit dieser für heutige Bibelleser vielleicht fremdartigsten Kategorie von Erzählungen im Neuen Testament und bringt interessante Aspekte in eine weithin festgefahrene Debatte.

Heutige Deutungsversuche scheitern entweder daran, dass sie in typisch neuzeitlicher Manier die Geschichten entweder als bloße Legenden behandeln, oder sie durch die dualistische Brille von Natur und „Übernatürlichem“ als wundersame Beweise für die Gottheit Christi deuten, oder dass das man Phänomen der „Besessenheit“ psychologisiert, nach heutigen Vorstellungen von Subjektivität als rein innerlicher Konflikt behandelt.

Alle drei modernen Deutungen werden den Texten nicht gerecht: Die Menschen damals erlebten es so, dass eine Macht von außen ihnen zu schaffen machte, nicht als einen rein innerlichen Konflikt. Die „Besessenen“ werden durchweg isoliert von ihrem Kontext als neuzeitliche, in sich geschlossene Individuen mit einem Leiden oder, schlimmer noch, psychischen Defekt betrachtet. Politik und Spiritualität erscheinen als ganz verschiedene Sphären, die miteinander nichts zu tun haben.

Horsley verweist auf Stimmen aus der neueren medizinischen Anthropologie, die gezeigt haben, dass nicht nur Krankheiten, sondern auch Heilung gesellschaftlich konstruiert sind. Im Fall der Schulmedizin deuten wir sie beispielsweise als Fehlfunktionen biologischer und psychologischer Prozesse. Wir wissen freilich längst, dass geschichtliche und soziale, strukturelle, politische und wirtschaftliche Faktoren auch eine gewichtige Rolle spielen, in der Regel blenden wir sie jedoch aus.

Phänomene von Besessenheit müssen daher umfassender aus dem kulturellen Kontext heraus verstanden werden, in dem sie auftreten. Horsley sucht zu diesem Zweck nach Analogien zum Palästina des ersten Jahrhunderts. Bei einer Reihe afríkanischer Völker gab es beim Eintreffen der ersten Europäer schon die Vorstellung, dass die Kranken und Niedergeschlagenen von den Geistern der Fremden heimgesucht werden, etwa der Araber, später dann auch der Europäer oder der christlichen Mission (in dem Fall hier der eindringende Geist dann „Kijesu“ oder im Sudan „nasarin“). Man besänftige diese fordernden und gierigen Mächte mit Getränken aus Flaschen, Weißbrot und Fleisch aus Konservendosen.

Die Invasion der Europäer sorgte dafür, dass sich die Fälle von Besessenheit massiv häuften und ständig neue Variationen entwickelten  – zum Beispiel konnten die Dämonen den Namen des viktorianischen Imperialisten Lord Cromer tragen. Bei den Zulus scheint diese Zunahme besonders intensiv gewesen zu sein, so dass die Exorzisten Menschen „impften“ durch „Soldaten“ – Geister, die ihre Träger nach Maschinenöl verlangen, sie in fremden Sprachen reden oder Lokomotivengeräusche imitieren ließen. Das sind alles vergleichsweise harmlose Aspekte der Kultur der Invasoren, mit denen man sich gegen die Gewaltherrschaft der neuen Herren schützen wollte. In den 1960er Jahren beschrieb der Psychiater Frantz Fanon Besessenheit und die Angst vor Dämonen als Konsequenz der französischen Besatzung, von der die Einheimischen als Primitive behandelt wurden, die nur die Sprache der Gewalt verstehen. Der Impuls zum Widerstand war da, ein Aufbegehren dagegen erschien lebensgefährlich. Horsley folgert:

Als Reaktion auf die Mächte, denen sie ausgeliefert waren, glaubten die Kolonialvölker allmählich, ihre Unterwerfung sei durch keine Aktion ihrerseits zu beheben. Über ihr Schicksal bestimmten höhere, übermenschliche Mächte. Kolonialer Gewalt war nur durch noch größere Gewalt beizukommen, die ihnen nicht zur Verfügung stand. Er war offensichtlich, dass die dominierende fremde Zivilisation ihre traditionelle Lebensweise bedrohte. Entsprechend der Sicht der Kolonialherren, die die Eingeborenen als die Personifizierung des Bösen ansahen, hielten die Eingeborenen die Kolonialherren für böse.

… die Angst der Menschen vor den Dämonen stärkte so ihre Hemmungen, die ein eventuelles aggressives Handeln verhinderte. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die bedrohliche Welt böser Geister, nicht auf die Instrumente kolonialer Kontrolle. Die dämonischen Mächte, nicht die konkreten Mächte imperialer Herrschaft waren Ursache ihres Leidens. Dämonenglaube war insofern ein Selbstschutz, als er das unterworfene Volk befähigte, die direkte Konfrontation mit den Kolonialherren zu vermeiden, die zu ihrem Untergang geführt hätte. Aber so war es auch ein wirksames Mittel der sozialen Kontrolle in einer Kolonialsituation und eine mystifizierende Verschleierung dieser Kolonialsituation samt der Mächte, die sie geschaffen hatten. (S. 117)

Die Beschäftigung mit dämonischer Besessenheit, die der vorhandene Geisterglaube ihnen ermöglichte, retteten die Menschen so gesehen davor, die angestaute Aggression gewaltsam gegen die Invasoren und Unterdrücker zu wenden, was aufgrund der militärischen Unterlegenheit einem kollektiven Selbstmord gleichgekommen wäre. Den Unterdrückern freilich nutzte diese Verschiebung des Problems.

Was das mit dem Neuen Testament zu tun hat, werde ich im nächsten Post kurz betrachten.

Share