Wahrheit, Freiheit und der Zwang zur Wahl

Ich habe wieder mal „Das hier ist Wasser“ von David Foster Wallace herausgekramt. Am Ende seiner Ansprache an die Absolventen des Kenyon College heißt es da, aktuell wie eh und je:

In den Niederungen des Erwachsenenalltags gibt es keinen Atheismus. Man kann nicht nichts anbeten – jeder betet etwas an. Aber wir können wählen, was wir anbeten. Und ein höchst einleuchtender Grund, sich dafür an einen Gott oder etwas Spirituelles zu halten […], ist der, dass euch so ziemlich alles andere bei lebendigem Leib auffrisst.

Wenn ihr Geld und Güter anbetet – wenn ihr daraus den wahren Sinn des Lebens bezieht –, dann werdet ihr davon nie genug haben, nie das Gefühl haben, dass es reicht. Das ist die Wahrheit.

 

Foster Wallace spielt diesen Gedanken jeweils noch einmal mit Schönheit, Macht und Intellekt durch, dann fährt er fort:

Wisst ihr, das Heimtückische an diesen Formen der Anbetung ist nicht, dass sie böse oder sündhaft wären, sondern dass sie so unbewusst sind. Sie sind Standardeinstellungen. Sie sind Glaubensformen, in die man nach und nach einfach so hineinschlittert, jeden Tag ein bisschen mehr; […]

Und die sogenannte »wirkliche Welt« hält einen auch nicht davon ab, gemäß diesen Standardeinstellungen zu operieren, denn die sogenannte »wirkliche Welt« der Männer, des Geldes und der Macht läuft wie geschmiert dank dem Öl aus Angst, Verachtung, Frustration, Gier und Selbstverherrlichung. Unsere heutige Kultur hat sich diese Kräfte auf eine Art und Weise nutzbar gemacht, die außerordentlichen Reichtum, Komfort und individuelle Freiheit hervorgebracht hat. Nämlich die Freiheit für jeden von uns, Herrscher seines winzigen, schädelgroßen Königreichs zu sein, allein im Mittelpunkt der Schöpfung.

Dieser Schein-Freiheit des Konsums und des neoliberalen Systems stellt er nun eine andere Definition von Freiheit gegenüber:

Aber es gibt natürlich verschiedene Formen der Freiheit, und die kostbarste wird in der großen weiten Welt des Siegens, Leistens und Blendens nie erwähnt. Die wirklich wichtige Freiheit erfordert Aufmerksamkeit, und Offenheit und Disziplin und Mühe und die Empathie, andere Menschen ernst zu nehmen und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, auf unendlich verschiedene Weisen, völlig unsexy, Tag für Tag.

Das ist wirkliche Freiheit.

Dass diese Freiheit erst noch entdeckt werden will, zeigt nebenbei die Suche in einer Bilderdatenbank: Zum Stichwort Freiheit finden sich da fast ausschließlich Bilder, in denen einzelne Personen vor der Kulisse großartiger Naturpanoramen abgebildet sind. Die Freiheit, auf den bedürftigen Anderen zuzugehen, ist da noch nicht angekommen.

PS: Martin Horstmann hat mich auf dieses Video aufmerksam gemacht, in dem Forster Wallaces Rede visualisiert ist. Die oben zitierten Teile scheinen allerdings nicht alle enthalten zu sein.

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Lässt Gott mit sich reden?

Wenn man über das Gebet nachdenkt, namentlich das bittende und vor allem für-bittende Gebet, dann steht man vor der Frage, wie sich Gottes Wirken und menschliches Tun zu einander verhalten. Dazu kursieren alle möglichen Vorstellungen. Viele haben mit abstrakt-philosophischen Fragen zu tun: Greift Gott überhaupt in die Eigengesetzlichkeit der Welt ein, den Lauf der Dinge, dem wir unterworfen sind? Oder wäre es übergriffig, wenn Menschen Gott auf ihre Seite zu ziehen versuchten?

Verändert das Gebet (nur) den Betenden, und wenn ja, wäre das schon ein Erfolg oder eher ein Problem (nämlich eine Kapitulation vor dem Unvermeidlichen)? Wenn Gott „allmächtig“ ist, geschieht sein Wille dann nicht automatisch? Ist es sinnvoll oder notwendig, ihn um irgendetwas zu bitten? Ist die Tatsache, dass es Leid und Böses in der Welt gibt, ein Indiz dafür, dass Gott entweder nicht allmächtig ist oder aber kein ausgeprägtes Interesse an uns hat?

praying by t-bet, on Flickr
praying“ (CC BY-ND 2.0) by t-bet

Zugleich stehen wir in unserer Welt vor Herausforderungen, die so gewaltig sind, dass wir kaum anders können, als Gott um Beistand und Hilfe zu bitten. Und im Kleinen, im Persönlichen, ist es oft auch nicht anders. Was können wir, biblisch begründet, dazu sagen? Und was folgt praktisch daraus?

In den letzten Wochen habe ich dazu bei einer ganzen Reihe von Autoren nachgelesen.  Von Abraham Heschel bis Frank Crüsemann, von Walter Wink bis Rowan Williams und von Ezechiel bis J.R.R. Tolkien. Sie kommen zu erstaunlich ähnlichen Schlussfolgerungen über die Partnerschaft zwischen Gott und Menschen. Wer mag, kann sich das Ergebnis hier anhören.

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Braune Blüten

Die frostigen Nächte dieser Woche haben sichtbare Spuren an den Obstbäumen hinterlassen. Viele Kirsch- und Apfelblüten sind erfroren. Schlaff und mit braunen Rändern hängen sie von den Zweigen.

Die ungewöhnliche Wärme im März und Anfang April (3 Grad über dem langjährigen Mittel) hatte sie sehr früh aufgehen lassen. Zu früh, nun schlägt der Winter zurück und die rosa-weiße Pracht stirbt dahin.

Der traurige Anblick hat Ähnlichkeiten mit der politischen Großwetterlage: Vieles, was offen und damit verwundbar war – aber eben auch fruchtbar und schön! –, droht nun in der Eiseskälte eines harten Rückschlages einzugehen. Demokratie und offene Zivilgesellschaft, Humanität und Menschenrechte, ein achtsamer Umgang mit der Schöpfung und den materiellen Ressourcen unseres Planeten, der Abbau von Grenzen, die Überwindung ethnischer und geschlechtlicher Diskriminierungen und viele andere Errungenschaften sind akut bedroht.

Wir haben es uns ja angewöhnt, christliche Auferstehungshoffnung und Frühling eng zusammenzudenken. Heute müssen wir das Bild noch weiter ausbauen: Weder in der Natur noch in unseren Gesellschaften sind Rückschläge ausgeschlossen. Nicht jeder Trend ist unser Freund. Aber erst dann, wenn uns unerwartete Rückschläge dazu verleiten, alle Hoffnung fahren zu lassen und aufzustecken, wären wir wirklich arme Kreaturen.

Zur österlichen Stimmungslage gehört neben der Freude auch der Trotz. Das kühle Wetter wäre ja noch der geringste Grund, den Trotz groß zu machen in diesem Frühjahr. Aber wenn es uns dazu anregt, den Kampf um die Hoffnung aufzunehmen, dann kommt es wenigstens in dieser Hinsicht zur rechten Zeit.

Frost im Frühling heißt nämlich auch: Die braunen Blüten werden abfallen. Es dauert zwar, bis etwas nachwächst. Trotzdem: Auf dieses Ziel hin dürfen wir leben und arbeiten.

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Zeitansagen

Im heutigen Evangelium hieß es zu Beginn des Abschnitts:

Es war im fünfzehnten Regierungsjahr des Kaisers Tiberius. Pontius Pilatus war römischer Bevollmächtigter von Judäa. Herodes regierte als Landesfürst in Galiläa, sein Bruder Philippus als Landesfürst in Ituräa und Trachonitis. Und Lysanias regierte als Landesfürst in Abilene. Die Obersten Priester waren Hannas und Kajaphas.

Man kann das als die Bemühung des Historikers um eine genaue zeitliche Einordnung lesen. Oder als ein Stimmungsbild, als eine Erklärung, warum dringend etwas passieren musste. Aktuell würde das ungefähr so lauten:

Es war in der dritten Amtszeit von Wladimir Putin, des Erfinders der „gelenkten Demokratie“. Der Rechtspopulist Donald Trump war gerade zum Präsidenten der USA gewählt worden. Für Patriarch Kirill war Putins Wahl 2011 ein „Wunder Gottes“, für Franklin Graham und seine Freunde die von Donald Trump. Apropos Gott: Präsident Erdogan nannte den gescheiterten Militärputsch in der Türkei ein „Geschenk Gottes“ und ließ Zehntausende von Kritikern verhaften. Der Krieg in Syrien ging in seinen sechsten Winter. Die Briten stimmten für den Austritt aus der EU. Dax und Dow Jones erreichten derweil Höchststände.

Wer die Gedanken zu Lukas 3,1ff weiter hören möchte – einfach hier klicken.

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Nichts ist mehr selbstverständlich

In den Diskussionen um den Rechtspopulismus gibt es immer wieder einmal Augenblicke, wo die Vertreter der offenen, demokratischen und …

… und hier entsteht schon die erste Schwierigkeit: Schreibe ich „liberal“? Das klingt entweder nach FDP oder nach einer Mischung aus Überlegenheitsgefühl und Gleichgültigkeit, die ich auch nicht meine. Schreibe ich „freiheitlich“? Dann könnte man an die FPÖ denken, die die Freiheit der Autochthonen gegen die Freiheit der Geflüchteten ausspielt. Wie rede ich von Freiheit, ohne die falschen Befreier zu begünstigen?

Weiter im Text: Also, in diesen Diskussionen gibt es immer wieder Momente, wo Entrüstung und Empörung, nicht nur und vielleicht auch nicht in erster Linie, darüber geäußert wird, dass jemand gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit schürt, sondern dass er Dinge sagt, von denen es doch ganz klar ist, dass man so nicht denkt und redet. Als ob der schlichte Hinweis genügen würde, damit das Gegenüber aufhört.

Die Rechten nutzen diese Einladung zum inszenierten Tabubruch, der ihnen nicht nur Aufmerksamkeit verschafft, sondern auch das Image des Rebellen. Zum Rebellen-Image gehört auch die Wahrnehmung, es handele sich um eine vitale, irgendwie jugendliche und dynamische Bewegung. Zugleich erinnert die verächtliche oder verzweifelte Empörung der Linken und der (Noch-)Mitte an die Eltern der 68-Generation, der es nicht gelang, ihre traditionellen und autoritären Werte gegen die Protestbewegung zu verteidigen. Sie wirken allein schon durch diesen Kontrast alt und verbraucht.

Nun stellt sich heraus, dieser Wandel war weder gründlich noch nachhaltig genug, um zu einer Selbstverständlichkeit zu werden. Jan C. Behrends schrieb kürzlich in der Zeit einen Nachruf auf den Liberalismus. Dort heißt es: „Die hegelianische Illusion von der Unumkehrbarkeit der Liberalisierung versperrte uns den Blick.“ An der Umkehrung wird seit langem hart gearbeitet, und inzwischen zeigt das Wirkung. Oft funktioniert das so, wie Sylvia Sasse es bei Geschichte der Gegenwart (danke für den Lesetipp, Walter Faerber!) beschreibt: „Mit der Geste von Aufdeckung und Bloßlegung werden Forschungsergebnisse tendenziös gelesen, um selbst wieder etwas zu verdecken und zu verhüllen.“

Anders gesagt, in der heutigen Welt mit ihren zerfaserten, multiplen und inkongruenten Öffentlichkeiten und Gegenöffentlichkeiten ist schlicht gar nichts mehr selbstverständlich. Es hilft also nicht, bloß an einen nicht mehr vorhandenen Konsens zu appellieren. Es genügt nicht, defensive Reaktionen zu zeigen, die oft paternalistisch wirken und vor allem die Notwendigkeit verkennen, die eigene Position nicht einfach nur durch die Wiederholung derselben Bilder, Begriffe und Narrative zu vertreten. Denn deren Wirkung hat sich vielfach schon abgenützt.

Ich kann mir nicht mehr vorstellen, dass der liberale Rekurs auf die Aufklärung allein genügt. Die einen kennen „ihren“ Kant längst nicht mehr, die anderen haben ihn längst gegen Nietzsches Willen zur Macht eingetauscht. Der muss sich vor keinem kategorischen Imperativ mehr rechtfertigen. Diese Leute sind sehr wohl gefährlich, aber weder sind sie alle ungebildet, noch geistig oder kulturell zurückgeblieben.

Ich glaube, wir kommen auch nicht umhin, eine genuin christliche Antwort auf die Zeichen der Zeit zu geben. Die Gelegenheit dafür ist günstig, der ökumenische Schulterschluss zwischen Katholiken und Protestanten funktioniert. Mit einigen Einschränkungen: Die evangelikale Welt ist über Trump gespalten, der Rechtskatholizismus in Ungarn und Polen (und seine Inseln in Deutschland) verweigert Papst Franziskus die Gefolgschaft. Aber wir haben im Evangelium von Gottes herrschaftsfreier Ordnung ein quicklebendiges Narrativ, das den synthetischen Legenden von Nation und Leitkultur unter anderem das voraus hat, dass es Gegensätze überbrücken kann. Und dass es die Vision einer versöhnten Welt schon immer in sich getragen hat.

Wirken wird das aber erst dann, wenn Christen – vor allem in den großen Konfessionen – sich unverblümt der Wirklichkeit stellen, dass wir eine Minderheit sind, die weder auf Selbstverständlichkeiten pochen kann, noch ungefragt davon ausgehen, dass andere ihre Prämissen teilen oder ihren Schlussfolgerungen zustimmen. Vielleicht wäre das ein guter Zeitpunkt, sich wieder auf Lesslie Newbigins wichtige Einsicht zu besinnen, dass die herrschende Plausibilitätsstruktur im globalen 21. Jahrhundert uns nicht mehr begünstigt, sondern vor die Aufgabe stellt, unerschrocken (und ohne uns dafür zu entschuldigen) Position zu beziehen und dem durch unser praktisches Verhalten die nötige Verständlichkeit zu verleihen:

Wenn das Evangelium verstanden werden soll, wenn es angenommen werden soll als etwas, das Wahrheit über die wirkliche Situation des Menschen vermittelt, wenn es, wie wir sagen, einen Sinn ergeben soll, dann muss es in der Sprache derer kommuniziert werden, an die es sich richtet und in Symbole gefasst werden, die für sie eine Bedeutung haben. Und da das Evangelium nicht als körperlose Botschaft daherkommt, sondern als Botschaft einer Gemeinschaft, die den Anspruch erhebt, danach zu leben und andere einlädt, sich dem anzuschließen, muss das Leben dieser Gemeinschaft so eingerichtet sein, dass es “einen Sinn ergibt” für jene, die man einlädt.

Oder, um es mit Walter Wink zu sagen:

Was die Kirche am besten kann, auch wenn sie es viel zu selten tut, ist einem ungerechten System [„Ideologie“ wäre hier vielleicht noch passender] die Legitimation zu nehmen und ein spirituelles Gegenklima zu schaffen.

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Putin, Punk-Prophetinnen und die „Powers that be“

Vor zwei Jahren erhielten die Aktivistinnen von Pussy Riot den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, vergeben vom Senat der Freien Hansestadt Bremen und der Heinrich Böll Stiftung. In der Begründung dazu hieß es:

Bei ihrem Auftritt in der Moskauer Erlöserkathedrale riefen sie in ihrem „Punkgebet“ Mutter Maria als feministischen Beistand an, um das Bündnis zwischen der orthodoxen Kirche und dem Kreml zu bekämpfen. In dem Prozess, der gegen die Aktionsgruppe geführt wurde, verteidigten sie sich mutig. Aus der Lagerhaft heraus setzten Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina ihren Widerstand fort. Nach ihrer Entlassung stellten sie sich als Aufgabe, über das System der russischen Straflager aufzuklären und Solidarität für die Gefangenen zu organisieren.

Interessant ist, wie sich Spiritualität und Politik hier verbinden. Ich wurde erst jetzt durch ein Kapitel aus Spiritual Activism von Alastair McIntosh darauf aufmerksam (danke an Thomas Zeitler für den Hinweis!). McIntosh zitiert aus den Erklärungen, die die Musikerinnen während ihres Gerichtsverfahrens abgaben. Auf den Seiten der FAZ ist das auszugsweise in Übersetzung nachzulesen. Und da zeigt sich, wie ernst und durchdacht die Aktion war, die in vielen Berichten nur als schriller Tabubruch und trotzige Provokation dargestellt wurde.

Pussy Riot Putin by AK Rockefeller, on Flickr
Pussy Riot Putin“ (CC BY 2.0) by AK Rockefeller

Marija Aljochina erklärte, dass Putin persönlich gar nicht gemeint war mit der Aktion, sondern ein System, dem der Machtmensch womöglich selbst verfallen ist:

„Wenn wir von Putin reden, meinen wir nicht in erster Linie die Person W. W. Putin, sondern Putin als das von ihm selbst erschaffene System – die praktisch vollkommen von einer Hand gelenkte Machthierarchie.“

McIntosh spricht hier vom „politischen Unbewussten“, das sich nur schwer explizit, dafür aber bildlich, symbolisch und intuitiv erfassen lässt, und greift den Begriff des autonomen Komplexes aus der Psychologie C.G. Jungs auf (Komplexe können bei Jung auch überindividuell auftreten, dann sind sie keine abgespaltenen, verleugneten Persönlichkeitsanteile, die es zu integrieren gilt, sondern ein gefährliches Phänomen). „Putin“ ist „ein mit Gefühlen aufgeladenes libidinöses Feld“, schreibt McInstosh. Der Politiker Wladimir Putin steht möglicherweise selbst unter dem Eindruck des Systems, das er installiert hat.

Und die Wirkung dieses Komplexes ist, dass Menschen resignieren und sich ohnmächtig fühlen. Erst gestern rätselte ich mit einem Freund darüber, warum der Widerstand gegen die Willkür der Regierung in Russland so unglaublich schwach ausgeprägt ist. Passend dazu sagte damals Aljochina:

Diese Leute haben aufgehört, sich als Bürger zu fühlen. Sie fühlen sich einfach als automatische Massen. Sie haben nicht einmal das Gefühl, dass ihnen der Wald direkt neben ihrem Haus gehört. Ich bezweifle sogar, dass sie ihr eigenes Haus als ihren Besitz betrachten. Denn wenn jemand mit dem Bagger am Hauseingang dieser Leute vorfährt und ihnen sagt, dass sie das Feld räumen müssen: „Entschuldigung, wir reißen Ihr Haus jetzt ab. Hier kommt jetzt ein Wohnsitz für einen Funktionär hin“, dann werden sie gehorsam ihre Sachen packen und auf die Straße gehen. Und sie werden da so lange sitzen bleiben, bis die Regierung ihnen sagt, wie es weitergeht. Sie sind vollkommen amorph – das ist sehr traurig.

Nachdem ich fast ein halbes Jahr im Untersuchungsgefängnis verbracht habe, ist mir klargeworden, dass das Gefängnis Russland im Miniaturmaßstab ist.

Die Macht des Systems ist (noch) ungebrochen, aber der Prozess gegen Pussy Riot hat es demaskiert, und sei es auch noch so punktuell und vorübergehend. Der Druck, sich durch ständige Propaganda selbst zu legitimieren, nimmt zu, und damit auch die Anfälligkeit für Fehler. Denn auch wenn die Nachfrage nach Augenöffnern derzeit nicht hoch ist – wer will, kann eben doch sehen, wie brüchig die Legitimation der Macht ist. Darauf weist Nadjeschda Tolokonnikowa hin:

Mit unserer Aufführung haben wir es gewagt, das visuelle Bild der orthodoxen Kultur ohne den Segen des Patriarchen mit der Protestkultur in Verbindung zu bringen, damit gescheite Menschen auf die Idee kommen, dass die orthodoxe Kultur nicht nur der russisch-orthodoxen Kirche, dem Patriarchen und Putin gehört. Sie kann auch auf Seiten der bürgerlichen Rebellion und der Proteststimmungen in Russland stehen.

[…] Im Vergleich zum Justizapparat sind wir nichts; wir haben verloren. Andererseits haben wir gewonnen. Die ganze Welt sieht jetzt, dass das Strafverfahren gegen uns manipuliert ist. Das System kann den repressiven Charakter dieses Prozesses nicht verbergen.

Das Gebet in der Kathedrale war aber auch ein prophetischer Weckruf an die orthodoxe Kirche, die korrupte Politik verklärt und von der Nähe zur Macht profitiert, dafür steht Patriarch Kyrill, dessen Vermögen 2012 auf 4 Milliarden Dollar geschätzt wurde. Der Patriarch war entsprechend empört über die Respektlosigkeit dieser Ruhestörung und sprach von Blasphemie. Die Punk-Prophetinnen hingegen wiesen darauf hin, dass ihr Gebet – ganz im Gegenteil – höchst aufrichtig und ernst gemeint war.

Eine zeitgemäße Form der Tempelreinigung ragt also unter den wenigen Protesten gegen das „Putin-System“ oder den „Putin-Komplex“ heraus. Das spricht für McIntoshs Vermutung, dass Glaube und Spiritualität eine wichtige Dimension im politischen Ringen um Gerechtigkeit darstellen. Bei Gene Sharp vermisst er diese Hinweise. Srdja Popovic greift lieber auf Kunstmythen zurück (das hat, wie Terry Eagleton zeigt, der deutsche Idealismus nach der Aufklärung auch versucht). Und in Philipp Ruchs „Wer, wenn nicht wir“ ist diese spirituelle Leerstelle überall mit Händen zu greifen und durch kein anderweitig generiertes Pathos so recht zu ersetzen.

Davon lässt sich doch sicher lernen. In den letzten Monaten haben sich genügend autonome Komplexe bemerkbar gemacht, die den inneren und äußeren Frieden gefährden. Können wir Protestanten neben den bürgerlichen Protestformen (die wir auf der Ebene moralischer Appelle ja vielfach unterstützen) auch prophetische, und lässt sich das ökumenisch ausweiten?

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Wunderbar weit

Heute wurde Papst Franziskus mit dem Karlspreis ausgezeichnet. In seiner Ansprache redete er den Europäern eindrücklich ins Gewissen. Er fragte dabei nicht nur „Was ist los mit dir, Europa?“, er erinnerte auch an die Geschichte: „Die europäische Identität ist und war immer eine dynamische und multikulturelle Identität.“ Und das bedeutet, dass eine „Kultur des Dialogs“ ganz oben steht auf der Prioritätenliste, ein „neuer europäischer Humanismus“. Und er gab heute auch gleich ein Beispiel für die Dialogkultur, indem er zu einer muslimischen Delegation sagte: „Wir alle haben einen gemeinsamen Vater – wir sind Geschwister!“

 

Nicht jeder Protestant würde dem zustimmen, aber neu ist das nicht: Wenn übermorgen am Sonntag Exaudi in vielen Gottesdiensten über Epheser 3,14-21 gepredigt wird, dann begegnet uns dort eine Spitzenaussage des Neuen Testaments: Gott ist „der Vater, von dem alle Geschlechter [oder Clans, Sippen, Stämme, Milieus] ihren Namen haben“. Da wird kein qualitativer Unterschied mehr zwischen den Ethnien und Nationalitäten diagnostiziert, kein Gegensatz zwischen Erwählten und Verschmähten konstruiert, keine Ausschlusskriterien formuliert.

Das ist ein genuin christlicher Humanismus. Universaler – und inklusiver – geht es eigentlich nicht mehr. Erst in dieser Weite zeigt sich dann, welches gewaltige Ausmaß die Liebe Gottes tatsächlich hat. Für Mauern, Zäune und Wachposten hingegen ist da kein Platz.

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Gott, Gewalt und Sündenböcke

Das Töten im Namen Gottes ist weiterhin Tagesgespräch. Das zeigt der gleichnamige Beitrag von Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ, die ebenso pauschale wie polemische Religionskritik von Georg Diez (jeder Monotheist ist für Diez ein potenzieller Terrorist, Jesus eingeschlossen) oder der Hinweis von Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dass Terror Gotteslästerung ist.

Ich hatte letzte Woche schon auf den hilfreichen Beitrag von Jonathan Sacks zur Problematik von Religion und Gewalt hingewiesen. Religion, auch und gerade in ihrer monotheistischen Gestalt, ist keineswegs grundsätzlich gewalttätig, wie Diez unterstellt. Aber sie kann gruppenbezogene Gewalt unter bestimmten Umständen fördern. Neuzeitliche Ideologien (Nationalismus, Rassismus) tun das freilich auch zur Genüge.

Seither habe ich mit großem Gewinn weiter gelesen: Aus seinen vielen interessanten und wichtigen Beobachtungen sind mir aufgrund der politischen Großwetterlage – dem Erstarken des Rechtspopulismus und Autoritarismus in der westlichen Welt – die Gedanken zum Antisemitismus und zum Sündenbock-Mechanismus besonders ins Auge gestochen. In der Karwoche bekommt das ohnehin noch einmal einen ganz anderen Nachhall.

Antisemitismus ist in der arabisch-islamischen Welt ein vergleichsweise junges Phänomen, das sich derzeit aber viral ausbreitet. Sacks belegt das mit einer Reihe von Beispielen und erklärt, dass wachsender Antisemitismus historisch betrachtet ein Indiz dafür ist, dass die Welt- und Gesellschaftsordnung ins Wanken gerät. Heute gelten in Europa 24% und im Nahen Osten 74% der Menschen als antisemitisch eingestellt. Er verweist auf die Arbeiten von René Girard: Wenn in einer Gesellschaft Konflikte entstehen, die zerstörerisch und gewalttätig werden könnten, dann lässt sich das dadurch abwenden, dass man die Aggression auf einen Sündenbock ablenkt. Der muss einerseits so mächtig gedacht werden, dass man ihm die Schuld an den Missständen geben kann, andererseits so schwach, dass man ihm gefahrlos Gewalt antun kann.

Dieses gleichzeitige Auftreten solch widersprüchlicher Aussagen ist ein klares Indiz dafür, dass der Sündenbock-Reflex aktiv ist. Eine Gruppe unbewaffneter Migranten kann man relativ gefahrlos töten. Erst wenn man sie mit dem Terror in Verbindung bringt und ihnen unterstellt, die abendländische Kultur zerstören zu wollen, geht die Sündenbock-Strategie auf. Die Gewalt findet ein Ventil und die mühsamen, schmerzhaften und riskanten Auseinandersetzungen, die zur Lösung des eigentlichen Problems (die Unzufriedenheit und Verunsicherung derer, die sich als Verlierer der Modernisierung- oder Veränderungsprozesse sehen) nötig wären, können entfallen.

Das erklärt, warum viele Deutsche, die sich benachteiligt fühlen, AfD wählen, obwohl die Partei keinerlei Lösungen für die soziale Spaltung Deutschlands anbietet. Ganz ähnlich wie heute den ethnozentrischen Alternativpatrioten gelang es nach dem verlorenen ersten Weltkrieg den Nationalsozialisten, die angestauten Aggressionen auf das Judentum zu lenken. Sacks folgert:

Wenn Leute andere beschuldigen, die Welt beherrschen zu wollen, kann es sein, dass sie unbewusst das projizieren, was sie selbst gern tun, sich aber ungern vorwerfen lassen möchten. Wenn man wissen möchte, worum es einer Gruppe wirklich geht, muss man sich die vorwürfe ansehen, die sie gegen ihre Feinde erhebt.

Der innere Zusammenhalt nimmt in dem Maße zu, wie man die Bedrohung von außen beschwört. Wenn Tyrannen und Populisten für solche Gruppenreflexe auch noch religiöse Gefühle instrumentalisieren, die zu eine hohe Opferbereitschaft fördern, dann leiden zuerst die jeweiligen Sündenböcke, aber eben auch die Mehrheitsgesellschaft unter den Exzessen. Es lässt sich zwar der Schuldvorwurf umlenken, die eigentlichen Ursachen der Probleme bleiben aber bestehen. Neue Gewalt macht sich früher oder später breit.

Auch das lehrt ein Blick auf die lange Geschichte des Antisemitismus. Sie wirft neben der Sündenbock-Thematik aber auch noch eine andere Frage auf, nämlich die nach der Rivalität unter Geschwistern. Und zu beiden Komplexen finden sich in den biblischen Texten nicht nur Problemanzeigen in Sachen Gewalt, sondern auch Lösungen. Dazu demnächst mehr.

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Bomben und Tränen

Bombenterror in Brüssel, Unschuldige sterben oder werden verwundet, und alle warten nun darauf, dass sich irgendwer zu den Anschlägen bekennt – und dabei Gott ins Spiel bringt. Der nächste Akt in diesem absehbaren Drama wird dann wohl sein, dass Rechtspopulisten Religion an sich oder lieber noch die Religion der anderen pauschal als Ursache von Gewalt verdächtigen und harte Maßnahmen gegen Menschen anderen Glaubens fordern.

Aber es geht auch anders: Seit Kurzem lese ich „Not in God’s Name. Confronting Religious Violence“ von Jonathan Sacks. Der ehemalige Oberrabiner Großbritanniens geht der Frage nach, in welchem Verhältnis die monotheistischen, abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – zur Gewalt stehen und welchen Beitrag sie zur Bekämpfung und Überwindung von Gewalt leisten könnten. Und dafür hat er letzte Woche den renommierten Templeton Prize bekommen. Ein Post von Michael Blume hat mich auf Sacks’ Werk aufmerksam gemacht.

Seine Grundthese ist einleuchtend: Menschen sind soziale Wesen. Sie bilden überschaubare Gruppen, in denen sie einander unterstützen (Familien, Clans, Dorfgemeinschaften). Zwischen den einzelnen Gruppen herrscht jedoch ein Konkurrenzverhältnis, das in Feindschaft und Gewalt ausarten kann. Religionen können einerseits wie kaum ein anderer Faktor menschlicher Kultur den sozialen Zusammenhalt großer Gruppen fördern, zugleich können sie aber auch die Konflikte zwischen rivalisierenden Gruppen verschärfen, zum Entstehen von „selbstloser Bosheit“ (Englisch: altruistic evil) beitragen und dies moralisch rechtfertigen. Beides sind indirekte und sekundäre Wirkungen. Die primäre Wirkung von Religion bleibt der Gruppenzusammenhalt: Glauben verbindet (Wer Miroslav Volfs „Öffentlich Glauben“ kennt, findet hier viele verwandte und an manchen Punkten auch weiterführende Gedanken).

Sacks’ Grundüberzeugung könnte Muslime, Juden und Christen verbinden, denn sie lautet: Gott weint, wenn Menschen in seinem Namen Gewalt üben.

Heute ist wieder so ein Tag.

 

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Der Parzany in mir

Vor einer Weile habe ich mich zu den Auseinandersetzungen innerhalb der Deutschen Evangelischen Allianz so geäußert:

Michael Diener, der in einem Interview mit der „Welt“ sagte, er achte und betrachte auch diejenigen als Brüder und Schwestern, die seine (konservative) Position im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht teilen. Und Ulrich Parzany, der sich nur denen verbunden fühlt und über den Weg traut, die sich von denselben Leuten distanzieren und fern halten wie er selbst.

Nun bin ich in diesen Tagen zu manchen kritischen Kommentaren auf diesem Blog befragt worden und merke, dass es mir formal betrachtet manchmal ähnlich geht wie Parzany, nur in umgekehrter Richtung. Ich komme zwar in der Frage von Homosexualität mit den Differenzen klar und erwarte nicht, dass alle meine Position teilen. Aber wo die Mitchristen an den rechten Rand rücken, sich der AfD zurechnen oder deren Inhalte verbreiten, wo sie Polemiken gegen vermeintlichen „Gender-Wahn“ abfahren oder pauschale Vorurteile gegen Muslime befördern, da hört für mich der Spaß auf, und die Gemeinsamkeit kommt an Grenzen. Früher fand ich das peinlich, heute halte ich es für gefährlich – und daher hadere ich auch immer wieder mal mit anderen, die sich nicht klar abgrenzen und distanzieren: Verlage oder Konferenzveranstalter, die Leuten wie Kuby und Kelle eine Plattform bieten oder deren leitende Mitarbeiter mit der AfD liebäugeln und die gegen „Gutmenschen“ wettern lassen, möchte ich persönlich lieber nicht unterstützen. Egal, was sie sonst noch so machen.

Denn dieser rechte Rand schadet unserer Gesellschaft unter dem Vorwand, Schaden bekämpfen zu müssen. Liane Bednarz beschrieb diesen Teil der Christenheit jüngst in der FAZ so: „… sie pflegen seit Jahren Ressentiments gegenüber der etablierten Politik und der Qualitätspresse. Und sie neigen dazu, die pluralistische Demokratie in Deutschland als diktaturähnliches System zu verunglimpfen, gegen das sich das „Volk“ zur Wehr setzen müsse.“ Der gemeinsame Nenner meiner Toleranz in die eine und meinem Wunsch nach Grenzen in die andere Richtung ist meine Überzeugung, dass wir eine offene, pluralistische und demokratische Gesellschaft brauchen (eine ausführliche biblisch-theologische Begründung für die liberale Demokratie als einer guten Staatsform findet sich beispielsweise in Miroslav Volfs „Öffentlich Glauben“).

Bin ich nun ein auf links gezogener Parzany, wenn ich mir da klare Abgrenzungen wünsche? Es wird vielen so erscheinen, die eine vermittelnde Position einnehmen: Da machen es einem die Hardliner von rechts und von links gleich schwer, weil keiner mit dem anderen mehr kann.

Vor einer Weile habe ich ein Bild – viele werden es auf Facebook schon gesehen haben – zur Illustration einer Predigt verwendet. Jesus steht auf einem kleinen Hügel und sagt: „Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!“ Jemand aus der Menge fragt: „Und wenn er Flüchtling ist, oder schwul?“ Und Jesus fragt: „Hast du was an den Ohren?“ Später fragte mich jemand, ob da nicht auch stehen sollte „und wenn er Neonazi ist?“ Und ich dachte, ja und nein. Flüchtling zu sein oder schwul ist erst einmal etwas, das man sich nicht aussucht, Neonazi zu sein ist eine Entscheidung, die auch anders ausfallen könnte. Ich möchte also nicht aufhören, Menschen an ihre Verantwortung für ihre politische Haltung und deren Folgen zu erinnern, denn das ist (bei aller Milieubedingtheit) mehr als nur schicksalhafte Prägung. Und natürlich geht es nicht darum, sie zu hassen und fertig zu machen. Aber man darf sie eben auch nicht verharmlosen, indem man sie (und das wäre mit der vorgeschlagenen Ergänzung ja der Fall) mit ihren bevorzugten Opfern auf eine Stufe stellt.

Jesus hat manche Grenzen aufgeweicht und andere verschärft. Dass Letzteres ab und an nötig ist, wenn Kirche ihren Auftrag nicht verraten und ihre Zukunft verspielen will, darin bin ich mit Ulrich Parzany und seiner Bekenntnisfraktion völlig einer Meinung. Die Ansichten darüber, wo diese Grenzen konkret verlaufen, liegen weit auseinander, aber dieses eine haben wir durchaus gemeinsam, dass wir hier stehen und nicht anders können als einander zu widersprechen.

Nicht viel, aber wer weiß, vielleicht wird eines fernen Tages ja wieder etwas Konstruktiveres daraus.

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Eine Welt, eine Gerechtigkeit

In den letzten Monaten flatterten mir auf verschiedenen Wegen Texte ins Haus, in denen Luthers Zwei-Reiche-Lehre thematisiert wurde. Der eine stammte von einem Journalisten eines öffentlich-rechtlichen Senders, der seine evangelische Kirchenleitung dafür kritisierte, dass sie sich so aktiv in die Flüchtlingsdebatte einmischte und forderte, sie solle sich wieder mehr der Verkündigung des Evangeliums widmen und die Politik den Politikern überlassen.

Der Journalist seinerseits benutzte seinen „weltlichen“ Beruf dazu, auf die innerkirchliche Debatte (nämlich darüber, was das Evangelium ist und was es denn heißt, es in der Gesellschaft hörbar werden zu lassen) einzuwirken. Nur: Entspricht das eigentlich seiner eigenen Auslegung der Zwei-Reiche-Lehre, oder wäre statt eines Rundfunkbeitrags nicht eher die Synode das richtige Forum gewesen?

Noch etwas skurriler war ein anderer Text aus ähnlicher Richtung, dessen Autor ausführte, dass man in seiner Eigenschaft als Christ angehalten sei, mit Flüchtlingen freundlich umzugehen, als Weltmensch und Staatsbürger aber mit dafür Sorge tragen müsse, das „Staatsvolk“ (Carl Schmitt lässt grüßen) vor so viel Zuwanderung zu schützen.

Mich erinnert diese Art, hart an der Bewusstseinsspaltung zu denken und zu argumentieren, an eine Kirche (die hatten wir ja viel zu lange), deren Pfarrer in der Todeszelle die Beichte hören und die Sakramente erteilen, die aber keinen Gedanken daran verschwendet, den Irrsinn der Todesstrafe zu hinterfragen, geschweige denn zu bekämpfen. Heute sind wir dann eben situativ und temporär nett zu den Flüchtlingen, die es über Meere und Zäune hierher geschafft haben, und gleichzeitig schieben wir sie ab in Regionen, in denen sie keine Lebensperspektive haben und die sie nur unter Lebensgefahr verlassen können. Also in den potenziellen Tod, den wir als Christen dann bedauern und als Deutsche für unvermeidlich erklären.

Gerechtigkeit ist – wie die Menschenwürde auch – unteilbar. Theologische Konstrukte wie die oben skizzierten trennen zwischen einer rein spirituellen und jenseitigen Gerechtigkeit (des Glaubens) und einer weltlichen Gerechtigkeit, die zur Wahrung der Ordnung und Sicherung der Macht (bzw. der jeweils geltenden Machtverhältnisse) Zwang, Strafe und Gewalt relativ unbefangen einsetzen darf. Gegen solche Trennungen wandte schon Dietrich Bonhoeffer ein:

Je ausschließlicher wir Christus als den Herrn bekennen, desto mehr enthüllt sich die Weite seines Herrschaftsbereiches. […] Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist. Sie braucht darum nichts geringeres als Christus selbst. Alles wäre verdorben, wollte man Christus für die Kirche aufbewahren, während man der Welt nur irgendein, vielleicht christliches, Gesetz gönnt. […] Seit Gott in Christus Fleisch wurde und in die Welt einging, ist es uns verboten, zwei Räume, zwei Wirklichkeiten zu behaupten: Es gibt nur diese eine Welt.

Diese Ansprache von Landesbischof Bedford-Strohm zeigt, wie man Luthers Lehre von den „zwei Regimenten“ auch verstehen kann:

Entgegen manchen Missinterpretationen ging es Luther nicht um Staatsfrömmigkeit oder um das Propagieren von grenzenloser Gewaltausübung des Staates. Sondern es ging ihm – lange bevor er selbst und seine Zeitgenossen demokratische Ideen hätten vertreten können, um die Herrschaft des Rechts.

[…] Die Liebe – so ist Luther zu interpretieren – muss auch das weltliche Handeln leiten. Die Gewalt muss auch da minimiert werden. Aber immer so, dass die Herrschaft des Rechts nicht in Gefahr gerät. Recht und Liebe sind nicht das Gleiche. Sie müssen unterschieden werden. Aber sie dürfen nie voneinander getrennt werden. Die Kunst der Politik ist es, das Recht so zu setzen, dass die Liebe darin Heimat zu finden vermag.

Gerechtigkeit in dieser unteilbaren Form – nämlich lebensfreundliche Verhältnisse für alle – ist, wie Walter Dietrich sehr plausibel gezeigt hat, nicht nur der rote Faden durch das Erste Testament, sondern auch das Thema, das Jesus in seiner Verkündigung der Herrschaft Gottes wieder aufnimmt.

Der Advent ist ein guter Anlass, sich wieder daran zu erinnern.

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Sekundenzweifel

Am Rande einer kleinen ökumenischen Adventsfeier komme ich mit einem Besucher ins Gespräch. Der Mann hat, so weit ich weiß, studiert und in seinem Beruf einiges von der Welt gesehen. Wir reden über Gemeindethemen und irgendwie kommen wir erst auf die Finanzkrise und dann auf dem Klimawandel. Zu beiden Themen bekomme ich lupenreine Verschwörungstheorien serviert.

Mein inneres Mikroklima oszilliert plötzlich zwischen hitzig und frostig.

Ich erkläre freundlich, dass ich das nicht für plausibel halte. Er behauptet im Gegenzug, dass Al Gores Film „Eine unbequeme Wahrheit“ in den britischen Schulen gerichtlich verboten wurde, weil er lauter Unwahrheiten enthalte. Ich kann das nicht glauben und setze mich zuhause sofort an den Rechner, um auf Spiegel Online zu lesen, dass in England ein einzelner (!) Elternbeirat gegen die Verwendung des Filme im Unterricht geklagt hatte, der offenbar nicht in sein Weltbild passte. Das Gericht wies die Klage jedoch ab. Es werden im Urteil zwar einige legitime Kritikpunkte vermerkt, Al Gores Grundaussage steht aber keineswegs in Frage.

In solchen Momenten ist man in einer bescheuerten Gesprächssituation. Man bekommt eine falsche Behauptung serviert, die man nicht sofort widerlegen kann. Ein „wusstest du schon“, wo es nichts zu wissen gibt. Und dann steht man als jemand, der etwas nur vermutet, jemandem gegenüber, der etwas weiß. Zwar ist meine Vermutung richtig und sein Wissen falsch, das weiß ich jetzt, aber das werden längst nicht alle Leute nachprüfen, die sich mit ihm unterhalten.

Zwei Dinge lerne ich daraus: Ich werde, auch wenn es schönere Dinge gibt, möglichst viele dieser Behauptungen nachprüfen und ich werde mich daran gewöhnen, dass ich mich angesichts der (irrigen und oft auch irrsinnigen) Gewissheiten anderer oft in einer gefühlt schwächeren Gesprächsposition wiederfinde. Dieses Gefühl, wenn ich mich frage, ob ich jetzt spinne oder doch wirklich der andere, lässt sich nicht abschalten.

Aber vielleicht muss ich mir immer wieder sagen, dass genau dieser Sekundenzweifel ein tröstliches Zeichen ist, weil er die meisten (r)echten Spinner anscheinend nie befällt.

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Extremisten der Gerechtigkeit

Der Anwalt Brian Stevenson ist einer der wichtigsten Bürgerrechtler der USA. Gerade ist sein Buch „Ohne Gnade. Polizeigewalt und Justizwillkür in den USA“ auf Deutsch erschienen. Einen kleinen Einblick in sein Anliegen gibt dieser TED-Clip:

Stevenson beklagt in seinem Vortrag die Diskriminierung der Schwarzen und der Armen und die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft, die es als einzige in der Welt fertigbringt, schon Kinder lebenslang einzusperren. Und er wünscht sich eine Diskussion darüber, wie seine Gesellschaft mit den Benachteiligten umgeht und was das über sie aussagt.

Eigentlich ist es ja müßig, die US-Gesellschaft auf einem Blog in deutscher Sprache zu kommentieren, und ich hätte das Ganze hier auch nicht thematisiert, hätte ich am Wochenende nicht erstens einen Brief von Martin Luther King Jr. gelesen. Am 16. April 1963 schrieb er aus dem Gefängnis von Birmingham (Alabama) an seine Kritiker (darunter auch Billy Graham!), die ihm vorwarfen, die Bürgerrechtsbewegung durch seine Ungeduld gegen die Wand zu fahren. King schreibt dort unter anderem:

wenn Sie immer und immer wieder gegen das erniedrigende Gefühl ankämpfen müssen, “niemand zu sein” – dann werden Sie verstehen, warum es uns so schwer fällt zu warten. Es kommt eine Zeit, wo das Maß des Erträglichen überläuft und der Mensch nicht länger gewillt ist, sich in Abgründe der Ungerechtigkeit stoßen zu lassen, in denen ihn die Finsternis und Leere zermürbender Verzweiflung umgibt.

Und dann fallen Sätze, wie man sie heute in Deutschland auch hören könnte, man müsste nur die Rassen- mit der Flüchtlingsfrage vertauschen:

Als erstes muss ich bekennen, dass ich in den letzten Jahren von den gemäßigten Weißen zutiefst enttäuscht wurde. Ich bin beinahe zu dem Schluss gekommen, dass das große Hindernis auf dem Wege des Negers in die Freiheit nicht der Weiße Bürgerrat oder der Ku-Klux-Klan ist, sondern der gemäßigte Weiße, dem “Ordnung” mehr bedeutet als Gerechtigkeit, der einen negativen Frieden, in dem es keine Spannungen gibt, einem positiven Frieden, in dem Gerechtigkeit herrscht, vorzieht; der ständig sagt: “Mit Ihrem Ziel bin ich völlig einverstanden, nicht aber mit Ihren Methoden der direct action”; der meint, in väterlicher Fürsorge die rechte Zeit für die Freiheit eines anderen bestimmen zu müssen; der dem Neger immer wieder rät, einen “passenderen Zeitpunkt” abzuwarten. Oberflächliches Verständnis bei Menschen, die guten Willens sind, ist entmutigender als absolutes Missverständnis bei Menschen bösen Willens. Lauwarme Anerkennung ist irreführender als völlige Ablehnung.

Heute sind dies die Stimmen, die sagen, man dürfe es mit der Hilfsbereitschaft und der Willkommenskultur doch bitte nicht übertreiben. Die auf das Zähnefletschen der Rechten zeigen und deren Hass legitimieren, obwohl sie ihn angeblich nicht teilen, sondern verabscheuen, indem sie deren Grunddogma des „zu viel, zu schnell, zu weit“ bekräftigen. Die Nächstenliebe ständig als luxuriösen Kostenfaktor thematisieren, den man sich leisten können muss, anstatt zu fragen, was aus unserer Gesellschaft wird, wenn wir meinen, uns das nicht leisten zu können.

Ein großer Chor älterer weißer Männer hält sich, wie Sascha Lehnartz letzte Woche schrieb, für ähnlich souverän und abgeklärt wie jene paternalistischen Bremser damals, und kritisiert Kanlzlerin Merkel nun als kopfloses Gefühlswesen, das irrational und gefährlich handelt:

In einem rhetorischen Überbietungswettbewerb stellen sie die Kanzlerin als Frau dar, der die Kontrolle über ihr Handeln entglitten ist. Sie verletze ihren Amtseid und schade Deutschland. Im Grunde bewegt sie sich in den Augen dieser Männer nur noch knapp unterhalb der Landesverratsschwelle.

Bei allen Parallelen zwischen den USA und Deutschland, Rassen- und Flüchtlingshass, King und Merkel, Einsperr- oder Aussperrreflexen – die Frage danach, was für eine Gesellschaft wir denn sein wollen, müssen wir hier genauso führen wie die US-Amerikaner.

Die Antwort hingegen könnte hier weniger ernüchternd und deprimierend ausfallen. Felix Stephan, der in der Online-Ausgabe der Zeit fordert, das ganze Land soll endlich reden, sieht die Rechten in Deutschland selbst in der aktuell steigenden Umfragetendenz dauerhaft in der Minderheit. Die Gesellschaft ist keineswegs gespalten. Er beruft sich auf Beobachtungen des Sozialpsychologen Harald Welzer und die Aktion Offene Gesellschaft, wenn er schreibt:

… wenn in Flensburg 10.000 Menschen nach Feierabend ein Schichtensystem organisieren, um dem humanitären Selbstverständnis Europas gerecht zu werden, so hört man davon doch relativ wenig. Wenn sich aber 10.000 Rechte zum Fackelmarsch in Dresden oder Erfurt versammeln, sind die Nachrichten Woche für Woche voll davon.

Die Hoffnungsträger sind dabei die einfachen Leute. Während die Politiker der Regierung immer noch mit der Blamage ringen, die Krise, die ja mit Ansage kam, verleugnet und verschlafen zu haben, während das Gezerre der EU-Regierungen um Kosten, Quoten und Grenzen nicht so recht vom Fleck zu kommen scheint, haben die Bürger der Mehrheitsgesellschaft schon gehandelt:

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts GfK hat gerade ergeben, dass die Altersgruppe der um die 30-Jährigen in diesem Jahr pro Kopf durchschnittlich 24 Euro weniger für Weihnachtsgeschenke, dafür 63 Euro mehr für Hilfsorganisationen ausgeben will. Der Solidaritätsbeitrag für die zweite große Integrationsleistung in der Geschichte der Bundesrepublik wird gewissermaßen schon bezahlt, bevor überhaupt jemand auf die Idee gekommen ist, danach zu fragen.

Ob in den Gefängnissen oder an den europäischen Außengrenzen: Forderungen nach Menschlichkeit und Barmherzigkeit sind weder unmännliche Gefühlsduselei noch unbezahlbarer Luxus. Noch wichtiger scheint mir die Einsicht, dass der richtige Weg nicht der rechte ist und auch nicht in der geometrischen Mitte des politischen Spektrums zwischen rechten Asylgegnern und linken Befürwortern verläuft. Das wäre die lauwarme Taktik, von der Martin Luther King so enttäuscht war. Der richtige Weg ist viel radikaler – wir brauchen Extremisten der Gerechtigkeit:

Als ich aber weiter darüber nachdachte, erfüllte es mich mit einer gewissen Genugtuung, ein Extremist genannt zu werden. War nicht Jesus ein Extremist der Liebe? “Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen.” War nicht Amos ein Extremist der Gerechtigkeit? “Es soll aber das Recht offenbar werden wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.” War nicht Paulus ein Extremist der Lehre Jesu Christi? “Ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe.” War nicht Martin Luther ein Extremist? “Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir.” War nicht John Bunyan ein Extremist? “Ehe ich aus meinem Gewissen eine Mördergrube mache, will ich lieber bis ans Ende meiner Tage im Gefängnis bleiben.” War nicht Abraham Lincoln ein Extremist? “Diese Nation kann nicht weiterleben – zur Hälfte Sklaven, zur Hälfte Freie.” Und war nicht auch Thomas Jefferson ein Extremist? “Wir halten es für selbstverständlich, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.” Es geht also nicht darum, ob wir Extremisten sind, sondern was für Extremisten wir sind. Sind wir Extremisten des Hasses oder der Liebe? Sind wir Extremisten, die die Ungerechtigkeit aufrechterhalten wollen, oder sind wir Extremisten der Gerechtigkeit?

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Thomas Merton und die politische Schönheit

Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit veröffentlicht unter dem Titel Die zielentleerte Zeit Teile des Vorworts für sein heute erscheinendes Buch „Wenn nicht wir, wer dann?“. Unter anderem schreibt er dort im Tagesspiegel:

Unsere Zeit wäre geradezu prädestiniert, Menschen mit herausragenden moralischen Qualitäten hervorzubringen, Politikerinnen und Politiker, die ihr Handeln daran orientieren, was politisch, historisch und moralisch „schön“ ist. Schaut man sich die Nachrichten an, wäre nichts dringender als Menschen, die Probleme ernsthaft anpackten. In Deutschland hätten wir die Mittel und die Sicherheit, uns ohne Gefährdung unseres Lebens für die Menschheit einzusetzen.

Aber viele ziehen es vor, abzuwarten oder sich herauszuhalten. Das ist nicht neu: Thomas Merton hat vor einem halben Jahrhundert einen „Brief an einen unbeteiligten Dritten“ geschrieben. Und weil er nicht auf die Oberfläche der Dinge, sondern auf deren Grund sieht, sind seine Worte heute nicht weniger aktuell als zur Zeit den kalten Krieges, während viele andere Autoren schon nach ein paar Jahren seltsam irrelevant klingen. Sein Aufruf geht in dieselbe Richtung:

Der unbeteiligte Dritte ist der Intellektuelle, der beobachtet und abwartet. Wir sind die unbeteiligten Dritten, während sie (die Mächtigen) unablässig dabei sind, die Welt nach ihren Zwecken und Plänen umzugestalten. Opfer dieser Politik sind die anderen, die sich nicht wehren können. Damit ist das Dreieck komplett. Die Frage lautet, ob man sich durch Distanz die Unschuld bewahren kann (unbeteiligter Dritter heißt im Original innocent bystander). Man könnte wohl, wenn man unverschuldet hilflos wäre, sagt Merton, aber in dem Moment, wo die Hilflosigkeit eine selbstverschuldete wäre, ist es auch schon vorbei mit der Unschuld. Abzuwarten kann legitim sein, wenn man genau weiß, worauf man wartet. Dann kann Nichtstun passiver Widerstand sein. In allen anderen Fällen wäre Passivität nur das Warten auf den eigenen Untergang.

Worauf also warten wir, wofür stehen wir, und wissen wir, was wir wollen, fragt Merton. Unsere Untätigkeit ist schuldhaft und unsere Schuldgefühle erleichtern es ihnen, den Machthungrigen und Skrupellosen, uns zu benutzen. Um noch einmal Ruch zu zitieren: „Die Frage der Menschenrechte ist eine Frage des Einsatzes der eigenen Rechte zum Schutz der Entrechteten. Sonst haben wir diese Rechte nicht verdient.“ Merton folgert:

Es ist also äußerst wichtig, dass wir nicht der Verzweiflung nachgeben, uns nicht ins „Unvermeidlichen“ fügen und uns mit „ihnen“ identifizieren. Wir sind verpflichtet, uns zu weigern, anzunehmen, dass ihr Weg „alternativlos“ ist. Und ebenso wichtig ist es für uns, nicht allzu exklusiv von „den anderen“ abzurücken, die auf uns angewiesen sind, und auf die auch wir angewiesen sind.

All „ihre“ Tarnungen, Imagewechsel und Bestechungsversuche dienen nur dazu, uns davon zu überzeugen, dass „sie“ es sind, auf die wir gewartet haben. Wenn wir überhaupt noch warten und die gepflegte Resignation nicht als bequemen Ausweg wählen. Wie Ruch spricht auch Merton hier von einer großen Leere:

Denn sehen Sie, unsere Leere ist nicht unschuldig, nicht einfach neutral, nicht „nichts“. Unser Selbsthass ist alles andere als Zerknirschung. Es ist das schreckliche spirituelle Vakuum, in das Boshaftigkeit sich wie ein Blitz einschleusen kann, um eine universale Explosion von Hass und Zerstörung auszulösen. Diese Explosion wird durch unsere Leere ermöglicht.

Alle Zuwendung, die wir von „ihnen“ erfahren, dient dazu, unser Schweigen und Wegsehen zu erkaufen. In dem Maß, wie wir die Entwicklung für unausweichlich halten, werden wir es kaum noch vermeiden können, zu Handlangern zu werden, denen ihre Unschuld nichts mehr wert ist. Aber was dann? Merton antwortet:

Es liegt nicht an mir, dieselbe Art klarer, mitreißender Aktionsprogramme anzubieten, die „ihre“ große Versuchung und Täuschung ist. Die eigentliche Schwierigkeit unserer Lage rührt von der Tatsache her, dass jedes definitive Programm nun eine Täuschung ist, jeder präzise Plan eine Falle, jede einfache Lösung intellektueller Selbstmord. […] Es gibt eine gewisse Unschuld darin, keine Lösung zu haben. Es gibt eine gewisse Unschuld in einer Art Verzweiflung: aber nur, wenn wir in der Verzweiflung die Erlösung finden. Ich meine das Verzweifeln an dieser Welt und was in ihr ist. Das Verzweifeln an Menschen und ihren Plänen, um auf die unmögliche Antwort zu hoffen, die jenseits unserer irdischen Widersprüche liegt, und die doch in unsere Welt hineinplatzen kann und sie lösen kann – sofern es noch jemand gibt, der trotz aller Verzweiflung hofft.

In der Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern ist die einzig unschuldige Person das Kind, das laut ausspricht, dass der aufgeblasene Kaiser nichts an hat. Hier sieht Merton unsere Aufgabe – allen Drohungen und Widerständen zum Trotz den Größenwahn, die Nichtigkeit, die Leere, die Grausamkeit und die Absurdität klar zu benennen. Ob das zum Erfolg führt (also einen Sinneswandel der Mächtigen bewirkt) oder zu verschärften Repressionen, bleibt offen. An das Wort und die Kunst, an die Unmöglichkeit einfacher Antworten und die Unentbehrlichkeit des Nachdenkens und Sich-Besinnens glaubt auch Ruch, sie sind das Gegenmittel gegen die Prosa des Geldes, des Marktes und der Profite, denn sie halten die Ahnung von Schönheit (die hat als Epiphanie immer etwas Transzendentes, scheint mir) wach und wirken damit (theologisch gesprochen) prophetisch:

Es gilt, Ideen wachzurütteln. In demokratischen Systemen ist das Politische ein Kampf der Worte. Denken wir an Parlamentsdebatten, Ansprachen und Wahlkämpfe. Wenn Politik aber ein Kampf der Worte ist, dann ist sie letztlich das Geschäft der Poesie und Schönheit. Von nichts ist die politische Gegenwart heute weiter entfernt.

Ich geh’ mir jetzt das Buch von Ruch kaufen. Jemand interessiert an einem Lesezirkel?

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Die falsche Identifikation mit den Opfern

Die Terroranschläge der letzten Woche von Beirut und Paris haben eine Welle der Solidarisierung ausgelöst. Wobei Paris es deutlich öfter in den Facebook-Status schafft als Beirut, was auch schon viel aussagt. Richtig verstanden heißt so eine Geste trotzdem erst einmal: Ich fühle mich mit den Opfern dieser Gewaltakte verbunden und teile ihren Schmerz.

Es gibt offenbar aber auch eine andere Seite: Über die Identifikation mit den Opfern stilisiere ich mich selbst zum Opfer und beginne dann im Namen der Opfer auf Vergeltung zu sinnen. Das ist doppelt raffiniert: als freiwillige Geste wahrt es den Anschein der Selbstlosigkeit, der Opferstatus immunisiert gegen Kritik daran, dass man die Gelegenheit ausnutzt, um alte Rechnungen zu begleichen.

So wie all jene, die bei jeder erstbesten Gelegenheit ihre Vorurteile gegen Muslime und Flüchtlinge als notwendigen Realismus ausgeben und jedem, der anders denkt, Unverantwortlichkeit oder „Gutmenschenkitsch“ unterstellen. Das Tolle am geborgten Opferdasein ist nämlich, dass man relativ ungestraft um sich schlagen und treten darf, obwohl man doch eigentlich unversehrt ist. Je mehr einer austeilen will, desto mehr muss er erst einmal beschwören, wie übel ihm ständig mitgespielt wird.

Zu den absurden Entwicklungen nicht erst dieser Tage gehört, dass protestantische Kirchenkampfrhetorik ständig von jenen bemüht wird, die im theologisch-politischen Spektrum weit rechts stehen. Und nicht von ungefähr war im Postillon kürzlich süffisant, aber treffend zu lesen: „Die eigene Meinung steht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit. Die Meinung der Anderen ist ein Angriff auf die Meinungsfreiheit.“ Auch das ist eine Art präventive Täter-Opfer-Umkehr.

Wunderbar beobachten lässt sich das derzeit am Verhalten Russlands: Nach dem Absturz des Passagierflugs über dem Sinai ließ die Regierung bisher kaum etwas über die Hintergründe verlauten. Nun, seit weltweit Empörung herrscht über das Morden in Paris, ist urplötzlich alles geklärt, der IS ist schuld und Putin bietet den Franzosen seine Hilfe bei der Bombardierung des IS in Syrien an, den Russland bisher kaum angetastet hatte, weil es lieber die gemäßigteren Gegner seines Vasallen Assad aufs Korn nahm. Vielleicht glaubt dann ja auch irgendwer, dass Russland im Ukraine-Konflikt das eigentliche Opfer war…?

Neben den handfest und unmittelbar Betroffenen sind nicht ihre falschen Sympathisanten, die Opfer in Zeiten des Terrors, sondern der Frieden. Wie wäre es, wird würden uns mit ihm solidarisch erklären und identifizieren? Etwa mit den Worten von Antoine Leiris, dessen Frau am Freitag in Paris ums Leben kam, und der in einer Art offenem Brief an die Attentäter schrieb:

Wenn dieser Gott, für den ihr blind tötet, uns nach seinem Bild geschaffen hat, dann muss jede Kugel, die meine Frau getroffen hat, eine Wunde in sein Herz gerissen haben. Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen.

Diese Entschlossenheit, sich nicht im Opferdasein einzurichten, ist der einzige Weg zu verhindern, dass es immer noch mehr Opfer gibt in dieser Welt, weil die erlittene Gewalt aus bislang friedlichen Opfern neue Gewalttäter macht. Und dass (wie vor nicht ganz hundert Jahren) ein kollektiver Opfermythos gedeihen kann, der uns in den nächsten verheerenden Krieg stürzt. Oder auch nur in den nächsten überflüssigen „Kirchenkrampf“.

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