Ein trotziges Fest, oder: das kleine Horn mit der großen Klappe

Nächste Woche ist Christi Himmelfahrt. Ich bin weiter als sonst mit meiner Vorbereitung, weil wir gestern schon alles für die Evangelische Morgenfeier am 26. Mai (10:30 auf Bayern 1) aufgenommen haben. Ich habe ganz bewusst den Text aus der Perikopenordnung genommen, weil ich den Eindruck habe, der ist aktueller denn je. Hier ist die Extended Version.

Nachts fühlt sich so manches anders an als am Tag. Ich erinnere mich, wie ich als Kind manchmal nachts fiebernd und schweißgebadet aufwachte: Mein dunkles Kinderzimmer schien in diesen Augenblicken immer größer zu werden und ich immer kleiner. In meinen Ohren klang ein Brummen und Dröhnen, das lauter wurde und dann wieder nachließ. Irgendwann schlief ich wieder ein, und wenn ich am Morgen aufwachte, war es hell, das Fieber hatte nachgelassen und ich war wieder normal groß. Aber der nächtliche Schatten war nicht sofort wieder weg. So wie auch heute auf diesen Frühlingstagen für viele Menschen ein Schatten liegt.

Nachts, wenn alles still ist und die Geschäftigkeit des Alltags uns nicht ablenkt, sehen und empfinden wir anders als am Tag. Mitten in der Nacht wirft der jüdische Weise Daniel einen Blick auf die Welt. Albtraumhafte Szenen erscheinen vor seinem Auge. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Daniel gefühlt immer kleiner wurde beim Hinsehen: 

Ich sah vier Winde.
Die kamen aus den vier Himmelsrichtungen und wühlten das große Meer auf.
Aus dem Meer stiegen vier große Tiere herauf, jedes anders als die anderen.
Das erste Tier war einem Löwen ähnlich und hatte Flügel wie ein Adler.
Ich sah, wie ihm seine Flügel ausgerissen wurden.
Es wurde vom Boden aufgehoben und wie ein Mensch auf seine Füße gestellt.
Ihm wurde menschlicher Verstand gegeben.
Dann sah ich ein zweites Tier.
Dieses Tier ähnelte einem Bären, und es stand an einer Seite aufrecht.
In seinem Maul hatte es drei Rippen, sie waren zwischen seinen Zähnen.
Man sagte zu ihm: »Steh auf, friss viel Fleisch!«
Dann sah ich ein anderes Tier, das einem Panther ähnelte.
Auf seinem Rücken hatte es vier Flügel, die aussahen wie die Flügel eines Vogels.
Es hatte vier Köpfe, und ihm wurde Macht gegeben.
Dann sah ich in der nächtlichen Vision ein viertes Tier.
Es war fürchterlich, schrecklich und sehr mächtig. Seine Zähne waren groß und aus Eisen.
Es fraß und zermalmte alles, und was übrig blieb, zertrat es mit den Füßen.
(Daniel 7,2-7 Basisbibel)

Sturm wühlt das Meer auf, und nacheinander kriechen aus dem Hexenkessel vier Monster ans Ufer. Schaurige Mutanten sind sie, aus Raubtierteilen zusammengeschustert. Gier, Gewalt und Verwüstung geht von ihnen aus. Und das letzte ist das Schlimmste.

Aber ich stolpere schon vorher beim Lesen: Der Bär hat nämlich ungeheuren Appetit auf Fleisch und wird darin noch kräftig bestärkt. Gab es damals schon eine Ahnung davon, was unser exzessiver Fleischkonsum an Verwüstung anrichten würde – von der Rodung des Regenwalds und der Gewalt gegen indigene Völker über den Methan-Ausstoß der Rinder, die Nitratbelastung der Gewässer, die Qualen der Massentierhaltung und die Geschäftspraktiken von Tönnies und Kollegen?

Wahrscheinlich bin ich auch nicht der einzige, dem zu dem Bären, spätestens aber zu dem Tier mit den eisernen Zähnen, das alles zermalmt und zertrampelt, die Berichte über die Verwüstungen durch Putins Truppen in der Ukraine einfallen. Als dieser Krieg vor einem Vierteljahr begann, hörte ich von vielen Seiten: „Das ist ein Albtraum! Kann ich bitte wieder aufwachen? Am liebsten in den Neunzigern, nach dem Mauerfall, als die Welt fast von selbst besser zu werden schien und Friede und Demokratie überall auf dem Vormarsch waren…!“

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Manchmal kommt es mir so vor, als käme gerade ein Monster nach dem anderen um die Ecke: Erst sorgt die Finanzkrise weltweit für Armut und leere Sozialkassen, dann bringt die Demokratiekrise vielerorts rechte Autokraten an die Macht. Im mächtigsten Land der Welt führt das zum Sturm aufs Kapitol. Derweil fegt eine Pandemie über den Globus, die viel Not verursacht und den Zusammenhalt weiter schwächt. Und just in dem Moment, als das Schlimmste ausgestanden scheint und wir uns endlich um die Klimakrise kümmern wollten (die sich immer weiter verschärft!), bricht der nächste größenwahnsinnige Despot einen sinnlosen Krieg vom Zaun. Mit unabsehbaren Folgen für die ganze Welt. Aufwachen in einer heilen Vergangenheit? Träum’ weiter.

Die Welt steht in Flammen, singt Sarah McLachlan, und es geht über meine Kräfte. Herzen sind erschöpft in diesen düsteren Zeiten. Das Licht ist erloschen über Lebenden und Toten, aber ich versuche, mich zusammenzureißen. 

Das kleine Horn mit der großen Klappe

Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus ist Daniels monströser Albtraum kein Traum mehr, sondern knallharte Realität. Nachdem die Heere der Babylonier, Meder, Perser und Alexanders des Großen Israel überrollt hatten, entweiht der syrische König Antiochus IV den jüdischen Tempel. In Daniels Traumwelt hört sich das so an:

Ich betrachtete die Hörner. Plötzlich wuchs zwischen ihnen ein anderes, kleines Horn hervor. Da wurden drei von den ersten Hörnern ausgerissen.
Auf dem Horn waren Augen, die den Augen eines Menschen ähnelten. Es hatte einen Mund, der großspurig redete.
(Daniel 7,8)

Was da gerade vor aller Augen in Jerusalem Wirklichkeit wird, lässt sich nur noch mit grotesken Bildern beschreiben. Das Staatsoberhaupt einer Mittelmacht hält sich für Gott und ist doch nur der Pickel auf dem Kopf des alten Drachen. Aus dieser luftigen Höhe heraus schwingt er sich zu großen Reden auf. Fake News, Lügen, Drohungen, Hassreden, Propaganda. Maßlose Selbstüberschätzung. 

Die Bibel beschreibt all das in diesen grellen Bildern, weil die Wirklichkeit so grotesk ist. Es ist grotesk, dass wir so viel über das höllische Ausmaß der Klimakrise wissen, aber den Hintern nicht hochkriegen. Mich hat das umgetrieben, wie erschreckend treffend der Film „Don’t Look Up“ dieses kollektive Versagen aufs Korn nimmt: Eine beißende Satire über Forscher, die einen Asteroiden entdecken, der auf die Erde zurast. Nach einigem Hin und Her werden sie ins Fernsehen eingeladen, um ihre Entdeckung zu erläutern. Aber statt ernsthaft über die zu erwartenden Folgen dieser Kollision zu reden, bekommen sie zu hören: „Keep it light, fun!“ – „Sagen Sie es leicht und lustig!“ Und als eine von beiden vor laufender Kamera traurig und emotional reagiert, weil niemand im Studio die Gefahr erst nimmt, wird sie als hysterische Spinnerin abgestempelt.

Die Welt brennt, und ich pack’s nicht mehr. Lustig und leicht war gestern. Nicht darüber reden zu können, wie es mir damit geht, wenn der Albtraum Wirklichkeit wird, ohne verhöhnt oder beschimpft zu werden, macht alles noch schlimmer. Hier im Buch Daniel (und in anderen apokalyptischen Texten der Bibel) finde ich die befreiende Erlaubnis: Blick den Monstern ins Auge, die über unsere Welt herfallen. Blick deiner Angst, deiner Wut, deiner Verzweiflung ins Auge. Für wie viele ist das Leben ein täglicher Albtraum. Durch Wegschauen oder Abwiegeln wird nichts besser. Das haben die letzten Monate und Jahre eindrücklich gezeigt. 

Aber woher soll dann Hoffnung kommen in düsteren Zeiten? 

Elons Himmelfahrt

Apropos „Großspurig reden“: Auch die Sonnenkönige des 21. Jahrhunderts, die Superreichen und HighTech-Gurus lassen sich gern als Hoffnungsträger feiern. Allen voran Tesla-Gründer Elon Musk, der sich mit Twitter gerade sein privates Sprachrohr kauft. Dann kann er weiter ungehindert Börsenkurse abstürzen lassen und andere durch Gehässigkeiten einschüchtern. Mit seiner Riesenrakete Starship X will Musk nun den Mars besiedeln. Nicht weil es da so schön wäre – er hat es eilig, von hier wegzukommen. Die Erde ist für ihn ein sinkendes Schiff. Im Februar sagte er:

Wir müssen die Gelegenheit ergreifen, und zwar so schnell wie möglich. Um ehrlich zu sein, Zivilisation fühlt sich gerade ziemlich zerbrechlich an.

„Elons Himmelfahrt“ ist freilich nur den Wenigen vorbehalten, die über das entsprechende Kleingeld oder Beziehungen verfügen. Alle anderen bleiben zurück auf der ausgeplünderten Erde. In Sachen Hoffnung ist dieser Kaiser doch ziemlich nackt.

Mit dem Schlenker ins Satirische, zum kleinen Horn mit der großen Klappe, bahnt sich im Nachtgesicht des Daniel die Wende an. Dieser Galgenhumor schafft Distanz zu dem, was mich bedroht. Und schräge Verfremdungen der Wirklichkeit haben seit je her Hochkonjunktur, wenn Whistleblower und Mahner mundtot gemacht werden. 

Als ob

Der russische Autor Vladimir Sorokin hat so eine Szene für unsere Zeit erfunden. In seiner Erzählung „lila Schwäne“ versammelt sich die russische Elite vor der Höhle eines alten Einsiedlers. Der verschrobene Vater Pankrati ist ihre letzte Hoffnung. Denn über Nacht haben sich alle russischen Atomsprengköpfe in Zuckerhüte verwandelt. Einer der Gesandten, Alex, erklärt das Problem:

„Ihr wisst, wo wir alle leben in welchem Land, welchem Staat. Hier ist alles als ob. Ruhe – als ob, Freiheit – als ob, Gesetze – als ob, Ordnung – als ob, … Kirche – als ob, Kindergarten – als ob, Schule – als ob, Parlament – als ob, Gerichte – als ob … Rente – als ob, Käse – als ob, Frieden – als ob, Krieg – als ob. … Echt ist bei uns nur dieser Sprengkopf. Nur dieses Uran, das Lithiumdeuterit. Das funktioniert. Wenn auch das noch zum Als-ob wird, dann ist gar nichts mehr da. Nur noch eine große Leere.“   (V. Sorokin, Die rote Pyramide, S. 130)

Sorokin hat die „Lila Schwäne“ vor dem Überfall auf die Ukraine geschrieben. Aber sein „als-ob“ trifft den Nagel auf den Kopf: Wir haben Wladimir Putin behandelt, als ob er ein verlässlicher Partner mit etwas seltsamen Ansichten wäre. Er ist es nicht. Wir haben so getan, als ob seine Kriegsverbrechen und seine Morde in Syrien, Luhansk, Berlin und London uns egal sein könnten. Sie waren nicht egal. Politiker, Generäle und Stammtisch-Strategen behandelten die Ukraine und ihre Regierung, als ob sie hoffnungslos unterlegen wäre und dem russischen Ansturm nicht mehr als ein paar Tage standhalten könnte. Sie ist es nicht.

Die Monster gebärden sich, als ob die Welt ihre Beute wäre. Sie ist es nicht. Der König redet, als ob er Gottes Stellvertreter auf Erden wäre. Er ist es nicht. Und Daniels Traum ist noch nicht zu Ende.

Die Zeitenwende

Szenenwechsel. Die Bühne wird umgebaut, vom Schlachtfeld zum Gerichtssaal. Der Vorsitzende lässt die Akten kommen. Die Gräueltaten der Angeklagten sind darin lückenlos dokumentiert. Das Urteil fällt – keine große Überraschung – vernichtend aus.

Ich sah, dass Throne aufgestellt wurden und der Hochbetagte sich setzte.
Seine Kleidung war weiß wie Schnee, und sein Kopfhaar war wie reine Wolle.
Sein Thron bestand aus lodernden Flammen, und dessen Räder waren aus Feuer.
Ein Strom aus Feuer floss von ihm weg.
Tausendmal Tausend dienten ihm, eine unzählbare Menge stand vor ihm.
Es wurde Gericht gehalten, und Bücher wurden geöffnet.
Ich sah hin, weil das Horn so großspurig redete.
Da sah ich, dass das Tier getötet wurde.
Sein Körper wurde vernichtet und dem brennenden Feuer übergeben.
Auch den übrigen Tieren wurde ihre Macht genommen.
Denn die Länge ihres Lebens war auf die Stunde genau festgesetzt.
(Daniel 7,9-12)

Israels Gott erscheint auf der Bühne. Hat J.R.R. Tolkien sich hier seinen Gandalf abgeschaut? Von Altersschwäche jedenfalls keine Spur: Grenzenlose Energie geht von diesem kosmischen Kraftzentrum aus. Als flösse Lava die Abhänge eines Vulkans herab. Alles, was sich dem glühenden Strom in den Weg stellt, wird von dieser Naturgewalt weggerissen und geht unter. 

Das ist das Schicksal aller Gewaltherrscher. Ihre Macht ist endlich, auch wenn sie so tun, als ob sie Götter wären. Ihre Zeit ist begrenzt. Die Saat ihres Zusammenbruchs und Untergangs ist schon ausgestreut. Die bitteren Früchte werden früher oder später reifen. Und sie werden sich daran verschlucken. Es mag länger dauern oder kürzer, aber irgendwann ist Schluss.

Kurz nach Kriegsausbruch sagte der ukrainische Botschafter bei den Vereinten Nationen im UN-Sicherheitsrat zu seinem russischen Kollegen: „Es gibt kein Fegefeuer für Kriegsverbrecher. Sie kommen direkt in die Hölle.“ Als ich die Meldung damals las, dachte ich zuerst: Der nimmt den Mund ganz schön voll. Doch als dann die Berichte aus Butscha die Runde machten, fand ich den Gedanken zunehmend tröstlich, dass da jemand ist, der alles Leid sieht, der Grausamkeiten nicht verharmlost, der alles ans Licht bringt und alle Täter zur Rechenschaft zieht. Wer sich also vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag nicht verantworten muss, ist noch lange nicht aus dem Schneider. „Kein Fegefeuer“, das bedeutet, kein Nachverhandeln ist mehr möglich, kein Deal mit dem Staatsanwalt, keine mildernden Umstände.

Wir Protestanten tun uns mit dem Gedanken an ein göttliches Weltgericht ein bisschen schwer. In unserer Genen steckt der Widerspruch gegen jede Form von Kirche, die Menschen einen unbarmherzigen, furchteinflößenden Gott vor Augen malt. Und ihnen wegen Nichtigkeiten mit Höllenqualen droht, um sie gefügig zu machen. 

Am Ende kam ein Gott heraus, der in seiner Harmlosigkeit wunderbar in unsere bürgerliche Kirche passt: Eine Art milder, fürsorglicher Onkel. So lange es halbwegs anständig zugeht, lässt er die Dinge laufen. Wenn es Streit gibt und laut wird, mahnt er alle Beteiligten zur Ruhe. In die Politik mischt er sich selten ein, weil es da ständig Streit gibt. Und weil es da um Geld geht – für das er sich auch nicht recht interessiert, so lange die Reichen gelegentlich spenden für Kinder in Afrika. Wenn aber wirklich böse und schreckliche Dinge geschehen, steht dieser liebe Gott genauso erschüttert und überfordert da wie wir.

Je länger ich dagegen in Daniels Traum lese, desto mehr habe ich den Eindruck: Gott ist wie eine Menschenrechtsanwältin, die mit geballter Faust in der Tasche ihren Schützlingen zuhört. Die sich kaum Schlaf gönnt und zu viel Kaffee trinkt, weil sie unermüdlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit dokumentiert, Täter und Auftraggeber identifiziert, Vertuschungen entlarvt. 

Macht und Menschlichkeit

In der nächtlichen Vision sah ich einen, der mit den Wolken des Himmels kam.
Er sah aus wie ein Menschensohn.
Er kam bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt.
Ihm wurden Macht, Ehre und Königsherrschaft gegeben.
Die Menschen aller Völker, aller Nationen und aller Sprachen dienen ihm.
Seine Macht ist eine ewige Macht, sein Königreich wird nicht zugrunde gehen. 
(Daniel 7,13-14)

Einer, der aussieht wie ein Mensch, bekommt die Macht übertragen. Menschliche statt unmenschliche, monströse Machtverhältnisse – daran sind die Völker und Reiche der Welt zu oft gescheitert. Nun kümmert sich Gott selbst darum und präsentiert seinen Kandidaten für das Amt des Friedenskönigs.

Mehr als 200 Jahre nach Daniels Monstern erscheint einem verfolgten Christen auf der Insel Patmos wieder einer, der aussieht, wie ein Menschensohn. Er kommt mit den Wolken, Haare und Gewand sind leuchtend weiß, sein Blick ist voll Feuer und seine Füße glühendes Erz. Der Hochbetagte und der Menschensohn aus Daniels Traum sind nun zu einer Gestalt verschmolzen. Und die sagt:

»Hab keine Angst. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige.
Ich war tot, aber sieh doch: Ich lebe für immer und ewig.
Und ich habe die Schlüssel, um das Tor des Todes und des Totenreichs aufzuschließen.«
(Offenbarung 1,18)

Christi Himmelfahrt – das bedeutet nicht, dass sich Jesus auf einen anderen Planeten beamt. Gottes Himmel ist nicht Lichtjahre entfernt, sondern so nahe wie die Luft, die mich umgibt. Er sieht und hört mich – aber eben nicht nur mich, sondern alle Menschen, überall. Und nimmt Anteil an allem, was mich freut und was mich quält.

Himmelfahrt, das ist aber auch der wahre Albtraum aller Menschenschinder: Ein zu Tode Gefolterter holt die anderen Gewaltopfer aus den Gefängnissen und den Gräbern. Und die Täter müssen ohnmächtig zusehen. Alle ihre Verbrechen kommen ans Licht, alle ihre Lügen fliegen auf. Gott wird „die verderben, die die Erde verderben.“ (Offb. 11,18), weiß der Seher Johannes. Die Gewalt gegen die Mitgeschöpfe, die von ihnen ausgeht, fällt auf sie zurück. In Gottes Gericht spielt auch Ökologie eine große Rolle.

Himmelfahrt ist ein trotziger Feiertag. Für alle, die unter Gewalt und Vernachlässigung leiden, lautet die Botschaft: Auch wenn es im Augenblick nicht so aussieht – das Böse wird ein Ende haben, und die es tun (oder davon profitiert haben) werden sich verantworten müssen. Jeder einzelne. Wenn du klagst, dich fürchtest oder weinst – Gott hält dich definitiv nicht für hysterisch.

Und für mich und alle, die gerade das Glück haben, in relativer Sicherheit schlafen zu können, heißt es: Steck den Kopf nicht in den Sand. Geh der Traurigkeit und dem Schrecken nicht aus dem Weg. Mut und Hoffnung gedeihen auch mitten unter den Albträumen unserer Zeit. 

Das englische Wort Awesome bedeutet unter anderem „furchteinflößend“, „fantastisch“, „eindrucksvoll“, „überwältigend“. Für Rich Mullins (oft kopiert, nie erreicht) beschreibt das alles zusammen, wie wir uns Gott vorstellen können.

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Die Grenzen der Gewaltfreiheit und der Fluch der Gewalt

In den letzten Wochen, seit dem Angriff auf die Ukraine, haben wir viel und auch kontrovers über Gewaltlosigkeit diskutiert. Was hätte Walter Wink wohl zu dem allen gesagt? Hier ein Zitat aus „Engaging the Powers“, das ich kürzlich beim Blättern wieder entdeckt habe. Das Buch erschien nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und atmet erkennbar den Optimismus der frühen 90er im Blick auf eine immer demokratischer werdende Welt. Aber es gibt dort auch Sätze wie diese:

»The truth is, nonviolence generally works where violence would work, and where it fails, violence too would fail. Neither might have been effective in Stalin's Russia (!), and neither has succeeded so far in Burma. 
… There may be situations so extreme that one cannot conceive of any alternative to violence. Even where no nonviolent alternative seems feasible, however, most aggressive, violent options will be worse. But time may come when an oppressive power has squandered every opportunity to do justice, and the capacity of the people to continue suffering snaps. Then the violence visited on a nation is a kind of apocalyptic judgement that leaves no one unscathed.
… Christians have no business judging those who take up violence out of desperation. The guilt lies with those who turned justice aside and did not know the hour of their visitation.«

Hätte Wink andere Töne angeschlagen als Harald Welzer (den ich normalerweise sehr schätze), wenn er am Wochenende mit dem Ukrainischen Botschafter diskutiert hätte? Die Zeilen oben legen es nahe.

Wink konnte damals den Kampf der Sandinistas in Nicaragua auch verständnisvoll kommentieren. Er hoffte freilich auch, dass Daniel Ortega und seine Mitstreiter die Waffen bald niederlegen und ausmustern würden. Der Fortgang der Geschichte gibt ihm in seiner Skepsis Recht: Ortega mutierte (wie etliche vor ihm) vom linken Rebellen zum Despoten und Begründer einer Familiendiktatur. Wer also einmal mit Gewalt zum Ziel gekommen ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder versuchen.

Wink schrieb von einem apokalyptischen Gericht. Nach dem Ende des ersten Weltkrieges schrieb – passend dazu – William Butler Yeats in „The Second Coming“:

Things fall apart; the centre cannot hold;
Mere anarchy is loosed upon the world,
The blood-dimmed tide is loosed, and everywhere
The ceremony of innocence is drowned;
The best lack all conviction, while the worst
Are full of passionate intensity.

Alles fällt, entgleitet, keine Mitte hält.
Anarchie stürzt auf die Erde los.
Flut dunklen Blutes stürzt und schwemmt
der Unschuld Feier überall hinweg.
Die Edlen lähmt erloschner Glaubenssinn,
Glut der Inbrunst macht die Wilden heiß.
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Die Macht der Gewaltlosigkeit (3)

Die letzten Tage haben gezeigt, dass der Krieg in der Ukraine wohl als Genozid eingestuft werden muss. Nach den Erfahrungen in den „Volksrepubliken“ auf dem Gebiet der Ostukraine seit 2014, den Verschleppungen, Foltergefängnissen und Ermordungen dort, hatten viele schon zu Kriegsbeginn darauf hingewiesen, dass das Grauen mit einer Kapitulation vor den russischen Angreifern keineswegs beendet wäre. Diese Einschätzung hat sich nun bestätigt. Sie entspricht der Kriegsrhetorik aus Moskau.

Gewaltfreier Widerstand geht davon aus, dass beim Gegner ein Rest Integrität, Moral, Menschlichkeit, Scham oder Empathie vorhanden ist, an den man mit Worten und Gesten erfolgreich appellieren kann. Was aber, wenn der Wille zur weitgehenden oder gar vollständigen Vernichtung eines ganzen Volkes so groß ist, dass alle Hemmungen fallen? Wenn die Gegner des russischen Großmachtanspruchs pauschal als „Nazis“ bezeichnet werden, dann kann das nur heißen, dass ihre Auslöschung kein Grund zur Trauer ist.

Mit der Frage der Betrauerbarkeit sind wir wieder bei Judith Butler. Der letzte Post ist schon eine Weile her, jetzt komme ich zum zweiten Kapitel, in dem sie fragt, was uns dazu bringt, das Leben anderer zu bewahren. Das bringt uns einerseits zurück zur Einsicht, dass Menschsein immer schon Beziehung zu und Abhängigkeit von anderen voraussetzt, und zur biopolitischen Frage, wessen Leben zählt und vor Zerstörung bewahrt werden soll. Trauer bedeutet, dass wir einen Verlust empfinden, und das verleiht dem, was verloren ist oder gehen könnte, einen Wert. Das lässt sich auch auf nichtmenschliches Leben ausweiten.

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Projektion und Paranoia

Ethische Reflexion, ob sie nun Kants kategorischem Imperativ oder konsequentialistischer Logik folgt, beruht auf Gedankenexperimenten, die in eine Art Verfolgungswahn führen können:

in beiden moralischen Experimenten stellen wir uns das eigene Handeln als das des anderen vor, als potenziell destruktiven Akt, der umgekehrt oder erwidert wird. Diese Vorstellung ist schwierig und verstörend, sie entzieht mir gleichsam mein eigenes Handeln. (S. 103)

Über die eigene Gewaltneigung als Handeln anderer zu phantasieren ist nicht immer eine hilfreiche Sache. Wir haben die eigene Vorstellungwelt nicht vollständig im Griff. Ich könnte auch zu der Überzeugung gelangen, dass ich dem Übergriff anderer zuvorkommen muss, und darüber völlig vergessen, dass es ja mein eigener destruktiver Impuls ist, der mir in fremder Gestalt begegnet. Butler zitiert dazu Sigmund Freud aus „Zeitgemäßes über Krieg und Tod“ von 1915 zum Dilemma von Todestrieb, Destruktivität und Moral:

Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag.

Während Freud skeptisch fragt, was (wenn überhaupt) uns davon abhält, anderen Gewalt anzutun (und ob der Versuch nicht zur seelischen Selbstzerfleischung führt), ist auch die umgekehrte, positiv formulierte Frage in der Psychoanalyse verhandelt worden. Zum Beispiel von Melanie Klein (1882-1960), der sich Butler nun zuwendet. Klein setzt sich mit Freuds Ansatz kritisch auseinander. Sie beschreibt Sympathie als Identifikation mit einer anderen Person. Das Glück anderer zu wollen kann zu Opfer und Verzicht führen. Aber ich habe auch Anteil an der Zufriedenheit des anderen, das entschädigt für den Verlust in gewisser Weise.

Fürsorge und Wiedergutmachung

Rollentausch und Stellvertretung (Butler spricht auch von Substitution in der moralischen Reflexion) können bei Klein auch den Charakter der Wiedergutmachung annehmen. Klein geht davon aus, dass in uns ständig eine Interakton von Liebe und Hass abläuft. Aus den Enttäuschungen und Verletzungen der Vergangenheit bleibt ein Groll auf die Eltern, der wiederum zu Schuldgefühlen führen kann, weil das Kind die Eltern ja auch liebt und Angst hat, sie zu verlieren. Verluste, Zorn und Schuld werden dadurch bearbeitet, dass ich anderen gegenüber die Rolle des fürsorglichen Elternteils einnehme. Butler sieht in Kleins Überlegungen die psychoanalytische Grundlage für eine Theorie der sozialen Bindung. Das soziale Band macht das Leben von Eltern und Kindern erst möglich. Butler folgert: „Das »Ich« lebt so in einer Welt, in der sich Abhängigkeit nur durch Selbstauslöschung überwinden lässt.“

Nicht erst der moralisch reflektierende Erwachsene, sondern schon jedes kleine Kind ist in der Lage, sich an die Stelle eines anderen zu setzen und umgekehrt. Abhängigkeit, Verluste, Entbehrungen, aber auch Liebe und Fürsorge gehören in dieses Verhältnis immer schon hinein:

"Ich liebe dich, aber du bist schon ich und trägst die Last meiner beschädigten Vergangenheit, meiner Entbehrung und meiner Destruktivität. Und ich bin ohne Zweifel dasselbe für dich und trage die Last der Strafe für das, was du nie bekommen hast. Wir sind füreinander immer schon mangelhafte Substitute für unabänderliche Vergangenheiten; keine von uns kann je wirklich das Verlangen überwinden, wiedergutzumachen, was nicht wiedergutzumachen ist. Und dennoch - hier sind wir, und hoffentlich trinken wir ein gutes Glas Wein zusammen." (S. 125)

Der letzte Satz ist die nahtlose Überleitung zum Gründonnerstag: Wein, Wunden und ein „Substitut“, das einerseits mangelhaft erscheint in seiner Schwäche und Verwundbarkeit, aus dem andererseits aber schon eine Hoffnung auf eine Wiedergutmachung spricht, die über eine bloße Kompensation und Reparatur hinausgeht. Zuvor beginnt morgen die Karwoche. Die Nachrichten aus den Kriegsgebieten werden so schnell nicht abreißen.

Bindung, Bruderkrieg und Bewältigung von Schuld

Butler schrieb in diesem Kapitel davon, dass der Wunsch, das Leben des anderen zu bewahren weniger aus dem hypothetischen Rollentausch kantischer oder konsequentialistischer Ethik folgt und auch nicht der Unterdrückung des Todestriebs durch die Strafandrohung des Über-Ichs zu verdanken ist. Noch vor aller Reflexion und vor allem Druck durch Moral und Gewissen ist da ein Bewusstsein vorhanden, dass mich meine Bedürftigkeit an den anderen bindet. Und dass ich aus dieser Bindung, unter der ich immer wieder auch leide, nur ausbrechen kann, indem ich mich selbst zerstöre.

Aggression und Todeswünsche sind wie Liebe und Fürsorge ein Grundbestandteil menschlicher Bindungen. Insofern ist ein „Bruderkrieg“ gar nicht so unwahrscheinlich, auch wenn wir uns das ungern ausmalen. Vielleicht sollten wir es uns auch gar nicht zu sehr ausmalen, weil sich der mehr oder weniger friedliche Bruder im Verlauf dieser Projektionen in einen gefährlichen Feind verwandelt, und weil diese vermeintliche Gefahr (die nur das Spiegelbild der eigenen Aggression ist) dann die Tür zu feindseligen Handlungen öffnet.

Die vorauslaufende Täter-Opfer-Umkehr der russischen Propaganda ist freilich unzureichend charakterisiert, wenn wir sie als aus dem Ruder gelaufenes ethisches Gedankenexperiment lesen. Sie ist wohl eher das Resultat einer gewaltigen und lange andauernden Verdrängung von Schuld, wie Olga Romanowa diese Woche in der Zeit schrieb:

"… der russische Staat und die russische Regierung haben sich nie bei ihren Bürgerinnen und Bürgern entschuldigt, und sie hatten nie die Absicht, die Verbrechen der vor ihnen Herrschenden zu verurteilen. Die grausamsten unter ihnen – Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin – gelten jetzt als Sammler der "russischen Erde" und als Vorbilder. Sie hatten niemals Erbarmen für ihre Mitbürger, ganz zu schweigen von den Bürgerinnen anderer Länder. Im 21. Jahrhundert braucht es das aber. Ob Russland das will oder nicht – klar ist, dass wir alle den Preis für die Verbrechen des Putin-Regimes zahlen werden müssen."

Dass Militär, aber auch Polizei und Justiz ungestraft Menschen schikanieren und töten, ist auch für Russland selbst eine Gefahr. Was ist also nötig, um einen anderen Umgang mit Schuld, Macht und Verantwortung zu bewirken? Und auf welche Zeiträume müssen wir uns dabei einstellen?

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Gott ist genervt: Unharmonische Weihnachtsgedanken.

Weihnachten herrscht in unseren Familien und Freundeskreisen manchmal, aber beileibe nicht immer ungetrübte Freude. Hin und wieder ist einer genervt. Das Essen misslingt oder entspricht nicht den Erwartungen, Gäste verspäten sich, mühsam ausgesuchte Geschenke treffen auf eher mäßige Begeisterung, der Gesprächsstoff geht aus, weil zu viele Themen mit Konflikten besetzt und die Harmlosigkeiten alle schon abgegrast sind. Irgendwann fällt ein falsches Wort, oder jemand bekommt etwas gut Gemeintes in den falschen Hals. Es folgt betretenes oder beleidigtes Schweigen, manchmal auch ein erhitzter Wortwechsel.

Einen solchen finden wir zu Weihnachten auch beim Propheten Jesaja. Mit dem feinen Unterschied, dass hier Gott der Genervte ist:

Und der HERR redete abermals zu Ahas und sprach: Fordere dir ein Zeichen vom HERRN, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe! Aber Ahas sprach: Ich will’s nicht fordern, damit ich den HERRN nicht versuche.

Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist’s euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen? Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel. (Jesaja 7,10-14)

Der Prophet Jesaja und Ahas, der König von Jerusalem, haben Stress: Die Sicherheitslage ist angespannt. Es droht Krieg mit den nördlichen Nachbarstaaten. Jesaja fordert Ahas auf, zu glauben, und das heißt, sich angesichts sehr realer Gefahr auf Gottes Treue zu verlassen. Ahas indes glaubt nicht, dass Gott ihn und sein Volk retten wird. Jesaja bietet dem König im Namen Gottes an, sich – quasi als vertrauensbildende Maßnahme – ein Zeichen auszusuchen, der aber lehnt – freilich nur scheinbar demütig – ab. In Wahrheit ist das ein Affront: Er will sich die Möglichkeit offen halten, die mächtigen Assyrer um Hilfe zu bitten – eine brutale Supermacht, viel schlimmer als die jetzigen Feinde.

Gott ist genervt davon, wie dieser König hier herumlaviert. Wenn sich Ahas eine andere Schutzmacht sucht als Gott, steht damit auch die besondere Beziehung Gottes mit dem Königshaus aus Davids Linie in Frage. Und damit die Zukunft des Volkes Gottes. Also kündigt der Prophet von sich aus ein Zeichen an, ungebeten: Ein Kind wird in Kürze zur Welt kommen, das seine junge Mutter „Immanuel“ nennt: „Gott mit uns“. Bevor der Kleine gut und böse unterscheiden kann, sagt Jesaja gleich anschließend, werden die Reiche der Aggressoren verwüstet sein. Leider auch der größte Teil von Ahas’ eigenem Königreich, weil Ahas – das zeichnet sich schon ab – auch diese erneute Einladung zum Vertrauen ausschlägt.

Die gute Nachricht in der schlechten Nachricht lautet: Es ist kein totaler Untergang, der jetzt droht. Aber es bleibt unklar, ob der Name „Immanuel“ ein dankbares Bekenntnis, oder ein trotziges ist, oder vielleicht auch nur ein verzweifeltes Flehen.

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Ilya Yakover

* * *

Ein Mann im Belagerungszustand. Das können wir verstehen: Auch für uns Heutige scheint die Frage eher die zu sein, welches der vielen Unheile, die derzeit drohen, uns zuerst erreicht:

  • Die Atomraketen aus Nordkorea und Donald Trumps Vergeltung?
  • Die Folgen der Kriege in der Ukraine und Syrien?
  • Die nächste große Wirtschaftskrise, gegen die sich nur wenige Superreiche versichern können?
  • Das labile Klima unseres Planeten – Stürme, Dürren, Überflutung?
  • Der massive Rechtsruck in Polen, Ungarn, Österreich und Sachsen mit seinem aggressiven Argwohn gegen alles Fremde und jeden, der aus der völkischen Reihe tanzt?

Aus Angst vor vermeintlichen Gefahren wenden sich auch heute viele an Helfer, die noch größeren Schaden anrichten. Irrsinnigerweise sind (in Ungarn, Polen oder den USA) auch viele fromme Christen darunter. Sie gewinnen kurzfristig an Sicherheit und opfern langfristig ihre Freiheit, wenn sie knallharte Machtpolitiker wählen, die Meinungs- und Pressefreiheit abschaffen oder ständig den Finger ab Abzug haben.

Kein Zweifel: Auch davon ist Gott genervt. Er hat es satt. Was wird er dagegen unternehmen?

* * *

Er unternimmt Folgendes:

Fast 800 Jahre nach Jesaja legt der Evangelist Matthäus den Satz von der Jungfrau und dem Immanuel einem Engel in den Mund, der Josef im Traum erscheint und ihn auffordert, die schwangere Maria nicht zu verlassen.

Wieder macht Gott seinem Volk in schweren Zeiten ein Angebot. Wieder durch die Geburt eines Kindes.

Nur hat Herodes das, was Ahas noch überlegte, längst hinter sich: Er ist bereits mit einer brutalen und gierigen Supermacht verbündet. Die Römer garantieren, dass seine Sippe an der Macht bleibt. Er ist König von Augustus Gnaden, so wie Assad in Syrien heute nicht ohne Putins Hilfe regieren könnte. Herodes ist paranoid, prunksüchtig, gewalttätig und heimtückisch, wie der Kindermord von Bethlehem beweist. Sogar ein paar seiner eigenen Söhnen ließ er umbringen, damit sie ihn nicht vom Thron verdrängen. Der neugeborene Immanuel – Jesus – muss mit seinen Eltern vor Herodes nach Ägypten fliehen. In jenes Land, dessen König zu Moses Zeiten kleine israelitische Jungs ermorden ließ. Aus Gründen der staatlichen Sicherheit, wie es dann immer heißt.

Gott ist genervt vom Verhalten der Mächtigen. Für Herodes ist die Geburt des Immanuel der Anfang vom Ende, ein Zeichen seines Untergangs. Die mörderische Intrige gegen das Jesuskind schlägt fehl. Er stirbt nach qualvoller Krankheit, seine Dynastie tritt ab. Statt seiner Söhne regiert jetzt ein römischer Statthalter in Jerusalem. Die Stimmung im Land ist so polarisiert, dass noch zwei Generationen später heftige Unruhen ausbrechen. Die Stadt und der Tempel werden dabei zerstört. Nur ein Rest überlebt und zerstreut sich über die ganze Welt – Jesaja reloaded.

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Jesus, der neue Immanuel, wächst inmitten dieser Ereignisse auf. Die Evangelisten sehen in ihm das Gegenbild zu einer Politik der Angst, der Korruption und Ausbeutung, des Vertrauens auf Rüstungstechnik, Waffengewalt und Geheimpolizei. Er wird gut und böse provokant anders unterscheiden als die meisten seiner Zeitgenossen. Er wird zur Gewaltlosigkeit aufrufen, zum friedlichen Aufstand gegen Macht und Mammon, zum radikalen Vertrauen auf Gottes Fürsorge, sein Mit-Sein mitten in den Turbulenzen des Lebens. Wie Jesaja ruft er Menschen auf, in einer alternativen Welt zu leben, die von Gott und seiner Treue bestimmt wird, und sich keine Angst einjagen zu lassen.

Der Immanuel zeigt: Gott hat sich durch die Hintertüre in die Welt geschlichen. Er ist mit den Armen, mit den Friedfertigen, mit den Leidenden, er ist einer von ihnen und teilt ihr Leben. Er erleidet wie sie den Hass, der ihm von den Unterdrückern entgegenschlägt, und ebenso die Wut des Mobs, der Sündenböcke sucht und Blut sehen will.

Mob und Macht versuchen diese Störung aus der Welt zu schaffen, aber am dritten Tag ist sie wieder da und breitet sich aus wie ein Gerücht, von Mund zu Mund und Herz zu Herz. Ein Gerücht von der Treue Gottes denen gegenüber, die ihm vertrauen. Selbst im Angesicht von Krisen, Krieg, Katastrophen und Tod.

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Gott ist genervt von allem, was Menschen zerstört, ihre Würde mit Füßen tritt, Zusammenhalt und Vertrauen zersetzt, Gewinn über Gemeinwohl stellt. Er hat sich endgültig auf die Seite all derer geschlagen, die unter Unrecht leiden und nach Gerechtigkeit hungern und dürsten. Nun fordert er uns heraus, uns zu ihm zu stellen. Und unsererseits darauf zu vertrauen, dass Gottes Macht größer ist als all die Drohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen.

Weihnachten – das ist aus der Jesaja-Perspektive die Frage, welcher Schutzmacht wir uns anvertrauen, einzeln und gemeinsam. Und was dabei aus uns wird. Vielleicht haben sogar einige der Dinge, die uns an Weihnachten genervt haben, mit solchen Schutzmächten und unserer Abhängigkeit von ihnen zu tun:

  • Dem wehrhaften Nationalstaat mit Polizei, Armee (und, wenn nötig, Bürgerwehren)? Der stellt Ordnung über Leben, Überwachung über Vertrauen und Gleichschritt über Freiheit.
  • Der Supermacht des freien Marktes, des Geldes und des cleveren Kalküls? Sie bringt wenige Gewinner und viele Verlierer hervor. Sie stürzt mich in die Tretmühle der Selbstoptimierung – und wenn alles ausgereizt ist, werde ich ausgemustert.
  • Starken und aggressiven Anführern, die laut, rücksichtslos und breitbeinig daherkommen und von sich behaupten, für „das Volk“ zu sprechen? Sie leben von Opfer-Typen und Opportunisten, beuten Angst, Neid und Hass aus. Sie spalten und säen Misstrauen. Andere machen sie innerlich kleiner, um selbst größer zu wirken.
  • Der Hoffnung auf Ruhm, Bewunderung und Anerkennung auf den analogen und digitalen Bühnen dieser Welt? Statt ich selber zu sein (und zu entdecken, was das eigentlich bedeuten würde), werde ich immer überlegen, was gerade gefragt ist und gut ankommt. Was Beifall (die „Likes“) oder Aufsehen erregt (die beliebten „Tabubrüche“). Was eben gerade als Projektionsfläche vorhandener Stimmungen taugt.

Ständig werden wir bewertet und beurteilt. Das strengt an und macht müde. Kein Wunder, dass wir genervt sind. Weihnachten ist eine Gelegenheit, dem auf die Spur zu kommen, was uns das Leben wirklich verleidet.

Und dann die Alternative zu betrachten: Ich vertraue dem Einen, der als Kind kam und es nicht als Zumutung empfand, klein zu sein. Der auch als Erwachsener Vertrauen schenkte und sich verletzlich machte. Der nicht das eigene Überleben und Wohlergehen im Sinn hatte. Der Menschen nicht taxierte und sich überlegte, welchen Nutzen sie für ihn wohl haben. Der Leute zusammenbringt, die sich von selbst nie zusammenfinden würden. Dem Immanuel.

Es ist riskant, Gott zu vertrauen. Es ist schwer, sich von ihm allein beschenken und beschützen zu lassen. Aber es ist auch der Weg zu einem erfüllten Leben – und zum Frieden mit mir selbst, meinen Mitmenschen und Gott.

Sein Segen und Wohlgefallen sei mit uns allen.

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