Die Zechpreller der Postmoderne

Religion, schreibt Zygmunt Bauman, steht in der Postmoderne vor dem Problem, dass die Konsum- und Erlebnisgesellschaft das Thema Transzendenz weitgehend besetzt und aus dem Jenseits ins Diesseits verlagert hat. Für ein „Leben in Fülle“ werden zahllose Techniken, Waren und Dienstleistungen angeboten, mit denen die einzelnen ihr Lebensglück optimieren können.

Swim at your own risk

Manchmal fällt die Orientierung schwer. Die postmodernste Form von Religion ist daher der Fundamentalismus, und der ist für Bauman gerade „keine kleine Nachwehe angeblich längst ausgetriebener, doch immer noch nicht ganz unterdrückter mystischer Sehnsüchte“ oder gar eine Flucht in die Vormoderne:

Der Fundamentalismus ist ein durch und durch zeitgenössisches, postmodernes Phänomen, das sich die „rationalisierenden“ Reformen und technischen Entwicklungen der Moderne voll und ganz zu eigen macht und weniger ein Rollback moderner Ansätze erreichen, als vielmehr den Kuchen essen und ihn behalten will: einen vollen Genuss moderner Attraktionen, ohne den Preis zu zahlen, den sie fordern.

Der „Preis“ ist ein Leben unter den Bedingungen der permanenten Wahl mit der ständigen Sorge, das Beste und Entscheidende zu verpassen und die vorhandenen Möglichkeiten nicht befriedigend auszureizen. Damit bleibt letztlich auch jede(r) allein. Folglich beschreibt Bauman den Preis für die postmoderne Freiheit als

… die bittere Erfahrung […] eines aus riskanten Entscheidungen bestehenden Lebens – stets unter dem Zwang, auf bestimmte Chancen zu setzen und andere zu vergeben; es ist die Erfahrung der jeder Entscheidung innewohnenden unabänderlichen Ungewissheit; der unerträglichen, weil mit niemandem geteilten Verantwortung für die unbekannten Konsequenzen jeglicher Wahl; der beständigen Furcht, sich die Zukunft und bisher nicht vorstellbare Möglichkeiten zu verbauen;

Im Unterschied zur traditionellen Religion, in der die Schwäche der Gattung Mensch das Problem darstellte, scheinen der Menschheit insgesamt heute kaum noch Grenzen gesetzt. Dieser Omnipotenz steht aber die Versagensangst und Unvollkommenheit des einzelnen Menschen um so schroffer gegenüber. Folglich treibt der Fundamentalismus mit seinen klaren Ordnungskategorien und Orientierungshilfen „den Kult der Expertenberatung und den besessenen Selbstdrill unter Spezialistenaufsicht, wie die postmoderne Konsumkultur sie alltäglich propagiert, lediglich zu ihrem radikalen Schluss.“

In dieser Hinsicht verkörpert der Fundamentalismus die Errungenschaften wie die Schattenseiten der Postmoderne. Er verspricht die Erlösung vom Wahlzwang durch die Bindung an eine absolute, höchste Autorität:

Der Fundamentalismus ist eine radikale Medizin gegen den Flucht der postmodernen, marktbeherrschten Konsumgesellschaft, gegen die risikokontaminierte Freiheit […].

In einer Welt, in der jede Lebensform gestattet und doch keine sicher ist, bringen sie den Mut auf, jedem, der es hören will, zu erklären, wie er sich entscheiden muss, damit die Entscheidung ungefährlich bleibt und vor allen in Frage kommenden Gerichten bestehen kann. In dieser Hinsicht gehört der Fundamentalismus zu einer größeren Familie totalitärer oder prototoatlitärer Lösungen, die all denen angeboten werden, die die Bürde der individuellen Freiheit unerträglich finden.

Bauman kann den Fundamentalismus daher auch als „alternativen Rationalismus“ bezeichnen, der sich gegen den neoliberalen Rationalismus totaler Wahlfreiheit stellt, der alles beliebig erscheinen lässt. Hier wird nun umgekehrt alles der Gewissheit untergeordnet.

In ihrer fundamentalistischen Version wird Religion nicht zur »Privatsache«, nicht wie alle anderen individuellen Belange privatisiert und im Stillen praktiziert […]: Sie regelt verbindlich und unmissverständlich jeden Bereich des Lebens und hebt damit die Bürde der Verantwortung auf, die schwer auf den Schultern des einzelnen lastet.

Und dann stellt Bauman die entscheidende Frage: Lassen sich Antworten auf all diese real existierenden Schwierigkeiten finden, die keinen Hang zum Totalitären haben? Auf die Theologie bezogen könnte das bedeuten: Wenn es keine absolute äußere Autorität (Buch, Papst etc.) gibt, kann der Glaube an das Evangelium zu einer inneren Quelle von Kraft und Mut werden, die uns in dieser verrückten Welt hilft, die Augen offen zu halten, ohne dabei zu resignieren? Finden wir unsere eigene Stimme und lernen wir, mutig verantwortliche Entscheidungen zu treffen, oder versuchen wir lieber, all das fehlerfrei aufzusagen, was uns als unfehlbare Richtschnur angepriesen wurde? Was könnte Menschen dazu bewegen, sich die eigene Interpretations- und Anpassungsleistung in Glaubensfragen einzugestehen, statt auf Buchstaben zu zeigen und daraus alternativlose Konsequenzen zu ziehen?

Parker Palmer hat einmal geschrieben: „Wir sind unvollkommene und kaputte Wesen, die in einer unvollkommenen, kaputten Welt leben. Die Genialität des menschlichen Herzens liegt darin, aus diesen Spannungen Einsicht, Energie und neues Leben zu gewinnen.“ Vielleicht hat das auch mit jener Fähigkeit zu tun, die Rilke in seinem vielzitierten Brief an Franz Kappus beschreibt:

ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.

Share

Die Sicherheitslücke

Die Sicherheit hat dem Reichtum und dem Ruhm den ersten Rang unter den modernen Götzen abgelaufen. Die Nachrichten spiegeln das fast im Wochenrhythmus wider. Sicherheit ist die fixe Idee, von der die Moderne seit dem Erdbeben vom Lissabon beherrscht wird, hat Zygmunt Bauman in Collateral Damage geschrieben. Dafür ist uns kaum ein Opfer zu groß, bis heute. Wer radikale oder grausame Maßnahmen in der Politik durchsetzen möchte, muss die Bedrohung beschwören. Wer zur Macht aufsteigen möchte, muss sein Programm als Prävention von Risiken verkaufen.

Gestern hat sich nun herausgestellt, dass der BND im Auftrag der NSA nicht nur potenzielle Straftäter überwacht und ausgespäht hat, sondern auch Politiker und Unternehmen, und zwar ohne Kenntnis der (überforderten, inkompetenten oder desinteressierten?) Kontrollorgane, monatlich des Kanzleramtes. Für Kai Biermann von der Zeit ist das der Albtraum der Demokratie. Unterdessen fordern Politiker der GroKo seit Wochen weitere Befugnisse in der Überwachung (die Vorratsdatenspeicherung), obwohl sich die unkontrollierbaren Dienste jetzt schon an keine demokratischen Regeln mehr halten. Und der NSU-Prozess zeigt Woche für Woche, wie deutsche Sicherheitsbehörden sich, etwa mit ihren V-Leuten, im rechten Sumpf verstricken und ihn eher ausweiten, statt ihn trocken zu legen, weil sie selbst längst zur Parallelgesellschaft geworden sind.

Der Absturz von Germanwings 4U9525 hat gezeigt, wie eine Sicherheitsmaßnahme – die gepanzerte Cockpittüre – zur tödlichen Falle für 150 Menschen wurde. Ungeachtet dessen wurden umgehend neue Forderungen erhoben (Berufsverbote für psychisch Kranke), die völlig zu Unrecht Millionen von Menschen als gemeingefährlich stigmatisieren – und es um so wahrscheinlicher machen, dass Betroffene ihre Krankheit möglichst lange verheimlichen, statt sich behandeln zu lassen.

17209448546_f3f217e254_zDer Wahn, alles kontrollieren zu müssen, führt offenkundig dazu, dass wir immer mehr die Kontrolle verlieren. Hier nun schlicht und lapidar auf Gottvertrauen zu verweisen, ist nicht unproblematisch. Gott lässt sich sicher nicht als Garant für unsere Unversehrtheit unter allen Umständen in die Pflicht nehmen. Aber der Glaube, dass Gott auf der Seite der Leidenden steht und die Hoffnung darauf, dass er – spät vielleicht, aber doch – Trauer in Freude verwandeln wird, könnten in uns den Mut wachsen lassen, mit manchen Risiken zu leben.

Denn da, wo wir Risiken um jeden Preis ausschalten wollen, verspielen wir nicht nur unsere Freiheit, wir erschaffen womöglich auch noch schlimmere Gefahren als die, vor denen wir uns fürchten. Das wäre vielleicht der erste Schritt, um aus den Albträumen aufzuwachen.

Share

Tod und Popcorn

Der Tod drängelte sich – unerwartet, wie so oft – ganz oben auf die Tagesordnung meiner letzten Woche. Das relativierte manches, was mich sonst vielleicht mehr beschäftigt hätte, ließ mich aber noch länger über ein paar Seiten aus Zygmunt Baumans Essay „Postmoderne Religion?“ nachdenken. Dort spricht Bauman von einer „antieschatologischen Revolution“ in der Moderne. Gegenüber der Vormoderne, deren ganz Sorge sich um die Frage des ewigen Seelenheils drehte, verschiebt sich die Aufmerksamkeit radikal auf das Diesseitige. Sünden- und Höllenängste des Mittelalters führten ironischerweise dazu, dass die

Faszination und Betörung durch das Leben nach dem Tod sowie die Anforderungen einer ganz auf Seelenheil ausgerichteten Frömmigkeit auf Gipfel getrieben wurden, die für Menschen, die noch am normalen Leben teilnehmen wollten, nicht mehr zu erreichen waren. Mönche. Prediger und andere »Künstler religiösen Lebens« setzten Frömmigkeitsmaßstäbe, die nicht nur mit allgemein verbreiteten »sündhaften Neigungen« kollidierten, sondern auch mit der bloßen ‚Aufrechterhaltung des Lebens als solchem; die Aussicht auf ein »ewiges Leben« geriet damit für alle mit Ausnahme einiger Heiliger außer Reichweite.

Als Reaktion darauf und nicht unbedingt im Sinne der Bußprediger, entwickelte sich aus dieser Maßlosigkeit heraus einerseits eine makabre Zurschaustellung von Tod und Leiden, andererseits schlug das memento mori um in ein memento vivere und die Freuden des irdischen Lebens (geflissentlich übersehen von vormodernen „missionarischen“ Paradigmen, die bis heute alles auf die Frage konzentrieren, wohin jemand wohl käme, sollte er heute sterben).

Denn analog zum paulinischen „Tod, wo ist dein Stachel?“ entwickelte die Moderne mit großem Erfolg drei komplementäre Strategien, um den Schrecken des Todes zu relativieren.

Der Tod wurde erstens in professionelle Obhut verwiesen und aus dem Alltag ausgegliedert:

Wie alles andere im Modernen Leben wurde der Tod einer arbeitsteiligen Behandlung unterworfen: er wurde zur Sache von »Spezialisten«. Für alle übrigen, die Nichtprofis, entwickelte sich der Tod zu etwas Anstößigem; eine peinliche, in gewisser Weise […] der Pornografie verwandte Angelegenheit, ein Ereignis, über das man nicht öffentlich und schon gar nicht »vor den Kindern« sprach. Man verbannte die toten und vor allem die Sterbenden aus dem Alltagsleben…

Zweitens wurde der Tod zerlegt in Einheiten, die sich bewältigen ließen:

Wie alle anderen »Ganzheiten« wurde auch die Aussicht auf den absolut und unwiderruflich bevorstehenden Tod scheibchenweise in unzählige, immer kleinere Bedrohungen für unser Überleben fragmentiert. an dem Faktum selbst kann man nicht viel ändern, und es wäre einfältig, sich mit etwas zu befassen, woran nun einmal nichts zu ändern ist. Die kleinen Gefahren jedoch kann man bekämpfen, zur Seite drücken, ja sogar besiegen. Und der Kampf gegen sie ist eine so zeit und energieraubende Betätigung, dass von beidem nichts übrigbleibt, um über die letztendliche Nichtigkeit all dessen nachzusinnen. Der Tod […] wurde in die kleinen, doch unzähligen Fallen und Hinterhalte des täglichen Lebens aufgelöst. Man neigt dazu, ihn immer wieder anklopfen zu hören – in fettreichem Fast Food, in salmonellenverseuchten Eiern oder cholesterinreichen Versuchungen, im Sex ohne Kondom oder im Zigarettenrauch, in asthmaerzeugenden Hausstaubmilben, … in zuwenig oder zuviel körperlicher Bewegung, in übermäßigem Essen oder übertriebenem Fasten, in zuviel Ozon und im Ozonloch; doch weiß man nun, wie man die Tür verbarrikadieren muss, wenn er klopft, und man kann die alten verrosteten Schlösser und Riegel oder Alarmanlagen gegen immer »neue und bessere« austauschen.

Drittens fand eine Virtualisierung des Todes statt. Während der wirkliche Tod immer mehr im Privaten verschwindet, wird der öffentliche Tod in Kino und Fernsehen unterhaltsam und spektakulär inszeniert, der tödliche Kampf zur einer Kunstform entwickelt, die (Tarantino lässt grüßen) um ihrer selbst willen existiert. Die schiere Flut des Sterbens auf der Mattscheibe erzeugt denselben Effekt wie eine Menge nackter Körper auf einem Bild, sie neutralisiert die Wirkung des einzelnen (hier Begehren, da Schrecken und Empathie).

In noch viel eindrucksvollerer Weise, als Aldous Huxley es sich ausmalte, ist seine Vision einer Todeskonditionierung (indem man Kindern Menschen im Todeskampf zeigt und sie dabei mit ihren Líeblingssüßigkeiten füttert) zur gängigen Praxis geworden – mit Auswirkungen, die dem, was er sich vorstellte, nicht sehr nachstehen.

Die Vorstellung des Lebens als eines „Seins zum Tode“ ist damit massiv geschwächt. Der Tod verleiht dem Leben, das auf ihn zuläuft, keine Bedeutung mehr, sondern er ist nur noch das Nicht-Ereignis, das eine Lebensgeschichte beendet, die just in dem Augenblick uninteressant und irrelevant wird, wo sie keine neuen Episoden mehr hervorzubringen verspricht. Und während der Tod im Leben eines vormodernen Menschen, das wenig Abwechslung und Überraschung bot, das eine völlig unkalkulierbare Ereignis war, so ist er heute häufig das einigermaßen absehbare, jedenfalls medizinisch erklärbare Ende eines Lebens, das von Umbrüchen, Ungewissheiten und Apokalypsen – Bauman spricht von der „Instabilität alles Erreichten und der Zerbrechlichkeit menschlicher Bindungen“ und der „Launenhaftigkeit von Regeln, die sich schon vor Spielende wieder ändern“ – gekennzeichnet ist.

Ungewissheit postmodernen Typs zeugt nicht von einem Bedarf an Religion, sie bewirkt vielmehr eine ständig steigende Nachfrage für Identitätsexperten. Wen die Ungewissheit postmodernen Typs quält, der braucht keine Prediger, die ihm etwas über die Schwäche des Menschen und die Unzulänglichkeit menschlichen Vermögens erzählen. Er braucht die Bestätigung, dass er/sie es schaffen kann – und Anleitung, wie dies anzustellen sei.

Ich kann nicht auf alles eingehen, was Bauman hier anreißt, aber mich hat seine Analyse insofern überrascht, als ich im Blick auf seine jüdische Herkunft erwartet hätte, dass er den Kern des Glaubens und damit von Religion nicht in der Frage nach Tod und Jenseits sieht, wie es dann im katholischen Spätmittelalter der Fall war. Zu Beginn des Essays, aus dem ich zitiert habe, beschreibt er noch sehr treffend die Unmöglichkeit einer umfassenden Definition von Religion, nur um das alles mit einem Satz von Tisch zu wischen und festzustellen, Religion sei „schließlich nichts anderes […] als das intuitive Wissen um die Grenzen dessen, was wir Menschen als solche tun und verstehen können“, Religiosität bestehe mithin im „Bewusstsein menschlicher Unzulänglichkeit und dem Eingeständnis der Schwäche“, die er im Folgenden dann strikt auf Tod und Transzendenz bezieht.

Für den Alttestamentler Walter Dietrich hingegen (und das hätte ich bei Bauman eigentlich erwartet, weil es ja sein Ur-Anliegen darstellt) ist der rote Faden der hebräischen Bibel die Frage nach Gerechtigkeit, der „Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnisse gerade für die in ihrer Existenz oder ihrem Wohl Bedrohten […]. Für Israel kennzeichnend ist dabei, dass sich religiöse Motivation und politische Aktion untrennbar miteinander verbinden“ (Der rote Faden des Alten Testaments, in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, S. 21)

Für mein Empfinden gilt diese Aussage ebenso für das Christentum und Jesu Botschaft vom Reich Gottes. Besonders auch in dem Sinn, dass Jesu Eintreten für Gerechtigkeit ihn zum Märtyrer und Opfer eines Justizmordes machte – ein Ereignis, an dem deutlich wird, dass sich derjenige ganz besonders mit dem Tod beschäftigen muss, der die sozialen Verhältnisse verändern will. Dazu kommt das für die ersten Christen völlig unerwartete Geschehen der Auferweckung, in dem erkennbar wird, dass der Tod als die Summe und endgültige Festschreibung aller lebensfeindlichen Verhältnisse und Bedrohungen auf eine völlig andere Art und Weise und von anderer Seite relativiert wurde, als es im Projekt der Moderne geschah und geschieht. Wer sich gegen Großkonzerne, Geheimdienste, Diktatoren, rechte Todesschwadronen oder mafiöse Strukturen stellt, darf keine Angst vor dem Tod haben und wird ihn schwerlich durch den Konsum von Popcorn und Actionkino ausblenden können.

Ein „aktuelles“ Evangelium, das sich auf Identitätsmanagement reduzieren lässt und zu diesem Zweck die Ur-Angst postmoderner Menschen beschwichtigt, in den ständigen Wahlzwängen Entscheidendes zu verpassen, ist ebenso ungenügend wie ein traditionelles, dass sich auf Schuld und Tod reduzieren lässt. Wer mutig vom Tod reden kann, hat auch in Sachen Gerechtigkeit etwas zu sagen. Wer sich vor dem Tod in Wellness flüchtet, wird auch davor zurückschrecken, sich den Mächten dieser Welt tapfer entgegenzustellen.

Share

Das Bollwerk im Kopf

Gestern habe ich mit ein paar klugen Leuten über Zygmunt Baumans Buch „Collateral Damage“ diskutiert. Bauman erneuert und verschärft darin seine Kritik an der „flüchtigen Moderne“ des Konsumzeitalters, dessen Wesen darin besteht, immer neue Bedürfnisse zu erzeugen. Die Konsequenz ist nicht mehr (nur) die Ausbeutung von Arbeitskraft wie in der Frühphase der Industrialisierung, sondern die Ausbeutung der Konsumenten, die sich wiederum in deren „freiwilliger“ Selbstausbeutung äußert. Man muss sich möglichst gut anbieten und „verkaufen“. Der Rückzug des Sozialstaates (Seit Reagan und Thatcher im angelsächsischen Raum, seit den Neunzigern dann auch bei uns) hat zu vielerlei sozialen Verwerfungen geführt und Risiken produziert, denen der einzelne weithin schutzlos ausgeliefert ist, während die Macht und der Reichtum einer kleinen globalen Elite, die im Unterschied zu den einfachen Leuten nicht an einen Ort gebunden ist, exponential wächst.

Bauman beschreibt das als Aufgabe, ohne einen Lösungsweg vorzugeben. Und dann nahm die Diskussion jene Wendung, die ich schon hundertfach erlebt habe. Jemand sagte: Aber der Kommunismus sei ja gescheitert [stimmt, und Bauman erklärt auch einleuchtend warum], und „der Kapitalismus“ sei doch immer noch „das beste“ System, das wir haben. Wobei sich niemand Illusionen über die katastrophalen sozialen und ökologischen Begleiterscheinungen machte. Eine gewisse Betretenheit machte sich breit in der Runde.

Die Resignation und das Verstummen an genau diesem Punkt ist bezeichnend: Wenn wir uns schon gar nicht mehr vorstellen können, dass wir uns Alternativen vorstellen und entwickeln könnten (vom zähen Ringen um eine politische Durchsetzung ganz zu schweigen), wird sich natürlich nie etwas ändern, bis alles von allein zusammenbricht – und das hätte dann apokalyptische Ausmaße. Es geht also zuallererst um Einfälle, Ideen und Phantasie. Eben jede Dinge, zu denen Jesus Menschen mit seinen Gleichnissen anregte und die Propheten mit ihren Bildern. Die Frage nach der „Machbarkeit“ ist erst einmal zweitrangig. Und es ist auch völlig in Ordnung, wenn wir statt ein paar Wochen Jahrzehnte brauchen, um eine praktische Alternative zu entwickeln. Um so wichtiger, jetzt das Gespräch anzustoßen, die Fragen auf den Tisch zu packen und möglichst viele Leute zum Denken zu verführen. Es lohnt sich auch dann, wenn wir noch 20 Jahre brauchen. Bauman dagegen hat von Günther Anders gelernt:

Die moralische Katastrophe unserer Zeit ‚erwächst nicht aus unserer Sinnlichkeit oder Durchtriebenheit, Unehrlichkeit oder Lässigkeit, nicht einmal aus der Ausbeutung, sondern aus einem Mangel an Vorstellungsvermögen‘; wobei das Vorstellungsvermögen, wie Anders beharrlich behauptet, mehr wahrnimmt von der Wahrheit […] als, das, wozu unsere maschinengetriebene empirische Wahrnehmung in der Lage ist. Ich würde hinzufügen: Das Vorstellungsvermögen erfasst auch viel mehr von der moralischen Wahrheit, der gegenüber unsere empirische Betrachtung besonders blind ist.

Freilich ist es nicht möglich, am Schreibtisch oder Reißbrett ein neues System zu entwerfen. Aber immerhin ist es im 20. Jahrhundert schon einmal gelungen, eine menschlichere Form des Wirtschaftens zu etablieren und damit die Härten und Ungleichheiten des Systems Kapitalismus leidlich auszugleichen – bei uns hieß das „Soziale Marktwirtschaft“. Es muss also kein „großer Wurf“ sein, es dürfen auch viele kleine Schritte und Maßnahmen werden.

Was dagegen keine Alternative ist, wäre so resigniert weiterzuwursteln wie immer. Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (der Name täuscht über die Absicht hinweg) und andere neoliberale Think Tanks würden uns die Arbeit nur zu gerne abnehmen.

Share

Der postmoderne Kick

Ein Wesensmerkmal der Post- oder fluiden Moderne ist die Auflösung der bisherigen Stabilität. Das ist auf vielerlei Art beschrieben und veranschaulicht worden und doch wird hier und da noch über Postmoderne so geredet, als ließe sie sich in Kategorien der soliden Moderne fassen: Fixpunkte, Dogmen, gleichbleibende Konturen.

Vielleicht findet ja der eine oder andere Fußballfan, sofern er nicht dem britischen Reduktionismus eines Gary Lineker (22 Mann, ein Ball…) auf den Leim geht, sondern Augen hat für die komplexe, manchmal sehr kunstvolle Struktur des Spiels, den Schlüssel zum Verständnis dieses Phänomens. Xabi Alonsos erster Profi-Trainer sagt über den vielleicht besten Spieler der aktuellen Bundesliga-Hinrunde: »Ich hatte Spieler, für die war Fußball Krieg. Für Xabi ist das Spiel ein Konzert.« Ein Paradigmenwechsel.

 

Denn auch der Fußball ist gerade dabei, den Schritt über die Moderne hinaus zu nehmen: Formationen und Positionen lösen sich auf, und besonders jene Spielertypen sind gefragt, die sich ad hoc anpassen können. Exemplarisch zu besichtigen im Spiel von Pep Guardiolas wild rotierenden Bayern, selbst wenn der Turbo gegen Hertha BSC (und zuvor gegen Manchester City) nur phasenweise gezündet hat.

Mike Goodman hat das jüngst so kommentiert:

Trying to discuss Pep Guardiola’s tactics is a bit like discovering that the language you’ve spoken your entire life doesn’t really exist. There are words, like full-back or midfielder, that suddenly come to mean completely different things from what they used to. The grammar and syntax of positions and formations that have always worked a certain way (albeit with all the exceptions and caveats of a normal language) suddenly don’t.

Die Worte sind noch da, aber sie bedeuten etwas anderes und sie werden anders verknüpft. Alan Roxburgh hat schon vor Jahren davon gesprochen, dass die alten Landkarten nicht mehr funktionieren. Und doch meinen manche immer noch, die Postmoderne – oder besser mit Zygmunt Bauman: die fluide Moderne – lasse sich kartographieren oder man könne einfach neue, eindeutige Übersetzungstabellen und Wörterbücher erstellen.

Reduktionisten würden sagen, dass auch Guardiola nur elf Mann auf den Platz schicken kann – nichts Neues unter der Sonne, eine flüchtige Modeerscheinung, sagen die ewig modernen Postmoderne-Skeptiker. Britische Reduktionisten kaufen mit den Ölmillionen von Scheichs und Oligarchen die elf besten, aber die Mannschaften fallen wegen (!) des vielen Geldes, das dem Umdenken im Weg steht, eher zurück. Dem entspricht in etwa der ebenso beliebte Ansatz der Moderne-Optimierer, die weitermachen wie immer, nur eben etwas besser und aufwändiger.

Man muss diese Veränderungen nicht mögen, man sollte sie schon gar nicht heilig sprechen, aber wer sie nicht versteht – und vor allem nicht darauf eingestellt ist, dass man in jedem einzelnen Moment genau hinsehen und hinhören muss, weil man nicht mehr davon ausgehen kann, dass Worte und Situationen heute noch dasselbe bedeuten wie gestern –, der könnte einen ähnlich schweren Stand haben wie Trainer und Teams, die gegen Guardiola und die Bayern antreten.

Im besten Fall bekommt man aus einer solchen Begegnung den nötigen Kick, die Zeichen der Zeit zu verstehen, sich auf andere Perspektiven einzulassen und scheinbar Vertrautes neu in den Blick zu nehmen.

Share